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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Vorstellung noch ein- oder zweimal diese Augen und der wie bei einer Stoffpuppe zurückgeworfene Kopf des Mädchens auf.
    Aber das, was vor dem Krieg gewesen war, hatte er in deutlicher Erinnerung, das rief er sich oft ins Gedächtnis. Hier im Waggon lebte er wie ein Greis ganz in seiner Vergangenheit, pflegte und hätschelte sie.
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    Am zwölften Dezember, an Davids Geburtstag, hatte ihm Mama ein Märchenbuch gekauft. Auf einer Waldlichtung stand ein graues Zicklein, neben ihm wirkte der undurchdringlich dunkle Wald besonders unheimlich. Zwischen den dunkelbraunen Stämmen, den Fliegenpilzen und Giftschwämmen lugten der rote, aufgesperrte Rachen und die grünen Augen des Wolfs hervor.
    Von dem Mord, der nicht verhindert werden konnte, wusste nur David. Er hieb mit der Faust auf den Tisch, verdeckte mit der Hand die kleine Lichtung vor dem Wolf, doch er sah ein, dass er das Zicklein nicht beschützen konnte.
    In der Nacht schrie er: »Mama, Mama, Mama!«
    Die Mutter erwachte und schwebte, einer weißen Wolke gleich, durch die nächtliche Finsternis zu seinem Bett – mit einem glücklichen Gähnen rekelte er sich, überzeugt, dass ihn die stärkste Kraft der Welt vor dem Dunkel des nächtlichen Waldes beschützte.
    Als er älter wurde, hatte er Angst vor den roten Hunden aus dem Dschungelbuch. Einmal waren nachts lauter rote Raubtiere ins Zimmer gekommen, und David hatte sich barfuß mit Hilfe der herausgezogenen Kommodenschublade zu Mutters Bett hochgekämpft.
    Wenn David hohes Fieber hatte, plagte ihn jedes Mal derselbe Fieberwahn. Er lag auf einem Sandstrand am Meer, winzige Wellen kitzelten ihn am Körper. Plötzlich türmte sich am Horizont ein lautloser blauer Wasserberg auf, wuchs immer höher und kam rasch heran. David lag im warmen Sand, der schwarzblaue Wasserberg wälzte sich auf ihn herab. Das war schrecklicher als der Wolf und die roten Hunde.
    Morgens ging seine Mutter zur Arbeit. Er trat auf die Hintertreppe hinaus und schüttete eine Tasse Milch in eine Konservenbüchse, in der einmal Krabben gewesen waren; das wusste die magere, zugelaufene Katze mit dem dünnen, langen Schwanz, der fahlen Nase und den triefenden Augen. Eines Tages sagte die Nachbarin, dass im Morgengrauen Leute mit einer Kiste gekommen seien und das widerliche Katzenvieh, Gott sei Dank, endlich ins Institut geschafft hätten.
    »Wo soll ich hin? Wo ist dieses Institut? Das ist doch völliger Unsinn, schlag dir diese unselige Katze aus dem Kopf«, hatte Mama gesagt und in seine flehenden Augen geblickt. »Wie willst du bloß in dieser Welt leben? Man darf nicht so verletzlich sein.«
    Die Mutter wollte ihn in ein Sommerlager für Kinder schicken, doch er hatte geweint, sie angefleht, die Hände vor Verzweiflung über dem Kopf gerungen und geschrien: »Ich verspreche dir, dass ich zur Großmutter fahre, nur nicht in dieses Lager!«
    Als die Mutter ihn zur Großmutter in die Ukraine brachte, hatte er im Zug fast nichts gegessen; er hatte geglaubt, sich schämen zu müssen, wenn er ein hart gekochtes Ei aß oder aus fettigem Papier eine Bulette auswickelte.
    Mama blieb fünf Tage mit David bei der Großmutter, dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie musste wieder arbeiten. Er nahm tränenlos Abschied, nur die Arme schlang er so fest um ihren Hals, dass sie sagte: »Du erwürgst mich ja, Dummerchen. Hier gibt’s so viele billige Erdbeeren, und in zwei Monaten komme ich dich holen.«
    Neben dem Haus von Großmutter Rosa war eine Haltestelle der Omnibuslinie von der Stadt zur Lederfabrik. Auf Ukrainisch hieß Haltestelle »supynka«.
    Der verstorbene Großvater war Bundist gewesen und ein berühmter Mann; irgendwann einmal hatte er in Paris gelebt. Das hatte der Großmutter viel Respekt und zahlreiche Entlassungen eingetragen.
    Aus den offenen Fenstern tönte das Radio: »Achtung, Achtung! Hier spricht Radio Kiew …« Tagsüber war die Straße ganz verlassen; sie belebte sich, wenn die Studenten und Studentinnen des Technikums für Lederverarbeitung auf ihr entlanggingen und sich gegenseitig zuriefen: »Bella, bist du durchgekommen?« – »Jaschka, komm heute Abend zum Marxismus-Lernen!«
    Gegen Abend kehrten die Arbeiter der Lederfabrik, die Verkäufer und der Monteur aus dem städtischen Funkhaus Sorok nach Hause zurück. Die Großmutter arbeitete im örtlichen Gewerkschaftskomitee der Poliklinik.
    Wenn die Großmutter fort war, hatte David keine Langeweile.
    Neben dem Haus lag ein alter Obstgarten, der niemandem gehörte.

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