Leben und Schicksal
Zwischen morschen Apfelbäumen, die keine Früchte mehr trugen, graste dort eine betagte Ziege, bunte Hühner suchten ihre Körnchen, stumme Ameisen krabbelten auf den Grashälmchen herum. Lärmend und selbstsicher benahmen sich in dem Garten die Städter – die Raben und Spatzen –, während die Feldvögel, die sich in ihn verirrt hatten und deren Namen David nicht kannte, sich wie schüchterne Mädchen vom Lande gebärdeten.
Er hörte viele neue Wörter:
Gletschik … dikt … kaljuscha … rjaschenka … rjaska … puschalo … ljadatsche … koschenja … In diesen Wörtern erkannte er den Widerhall und Abglanz seiner russischen Muttersprache. Er hörte zum ersten Mal Jiddisch und war verblüfft, als Mama und die Großmutter in seinem Beisein jiddisch miteinander sprachen. Nie hatte er seine Mutter in einer Sprache sprechen hören, die er nicht verstand.
Die Großmutter hatte David zu ihrer Nichte, der dicken Rebekka Buchman, zu Besuch gebracht. In das Zimmer, das David mit seinen vielen weißen Spitzenvorhängen in Staunen versetzte, trat Eduard Isaakowitsch Buchman ein, Hauptbuchhalter der Staatsbank, gekleidet in Feldhemd und Stiefel.
»Chaim«, sagte Rebekka, »das ist unser Gast aus Moskau, der Sohn von Raja«, und fügte gleich hinzu: »Na, sag Onkel Eduard schön Guten Tag!«
David fragte den Hauptbuchhalter: »Onkel Eduard, warum nennt dich Tante Rebekka Chaim?«
»Das ist mir mal eine Frage«, sagte Eduard Isaakowitsch. »Weißt du denn nicht, dass in England alle Eduarde Chaim heißen?«
Dann kratzte die Katze an der Tür, und als es ihr endlich gelungen war, sie aufzudrücken, sahen alle ein kleines Mädchen mit bekümmerten Augen mitten im Zimmer auf dem Topf sitzen.
Am Sonntag ging David mit der Großmutter auf den Basar. Alte Frauen mit schwarzen Tüchern auf dem Kopf gingen auf der Straße, verschlafene, mürrisch blickende Eisenbahnschaffnerinnen, hochnäsige Ehefrauen führender Männer des Bezirks mit blauen und roten Einkaufstaschen und Landfrauen in Stiefeln.
Die jüdischen Bettler schrien mit barscher Stimme – anscheinend gaben ihnen die Leute nicht aus Mitleid ein Almosen, sondern aus Angst. Über das Kopfsteinpflaster fuhren die Anderthalbtonner-Lkws aus den Kolchosen, mit Kartoffel- und Kleiesäcken und geflochtenen Käfigen beladen, in denen Hühner saßen, die bei jedem Schlagloch gackerten wie alte, kränkliche Jüdinnen.
Die Fleischerzeile zog ihn am stärksten an, stürzte ihn am meisten in Verzweiflung und Erschrecken. David sah, wie von einem Fuhrwerk ein totes Kalb gehievt wurde; das Maul stand halb offen, auf dem Hals lockte sich weißes, blutverschmiertes Fell.
Die Großmutter kaufte ein scheckiges junges Huhn und trug es an den Beinen, die mit einem weißen Stoffläppchen zusammengebunden waren; David ging nebenher und wollte dem Huhn mit der Hand helfen, den kraftlosen Kopf hochzuheben. Bestürzt fragte er sich, woher diese Grausamkeit kam.
Er erinnerte sich an das, was Mama einmal – für ihn unverständlich – über seine Herkunft gesagt hatte, dass nämlich die Verwandtschaft von Großvaters Seite Leute der Oberschicht waren, die ganze Verwandtschaft aber von Großmutters Seite Kleinbürger und Krämer. Wahrscheinlich tat Großmutter deswegen das Huhn nicht leid.
Sie gingen in einen kleinen Hof; ein alter Mann mit einem Käppchen auf dem Kopf kam zu ihnen heraus, und die Großmutter redete mit ihm in jiddischer Sprache. Der Alte nahm das Huhn in die Hand, murmelte etwas, das Huhn gackerte vertrauensvoll; dann machte der Alte mit einer raschen, kaum wahrnehmbaren Bewegung irgendetwas Schreckliches und schleuderte das Huhn über die Schulter. Es stieß ein lautes Gackern aus, rannte flügelschlagend davon, und der Junge sah, dass es keinen Kopf hatte – der Hühnerrumpf rannte allein, ohne Kopf –, der Alte hatte es getötet. Nach ein paar Schritten fiel das kopflose Huhn nieder, scharrte die Erde mit seinen kräftigen, jungen Krallen auf und war tot.
In der Nacht schien es dem Knaben, als ströme ein feuchter Geruch von geschlachteten Kühen und abgestochenen Kälbern ins Zimmer.
Der Tod, der in dem gemalten Wald gelebt hatte, wo sich ein gemalter Wolf an ein gemaltes Zicklein heranschlich, war an diesem Tag aus dem Märchenbuch herausgetreten. Zum ersten Mal fühlte er, dass auch er sterblich war, aber nicht so wie im Märchen, sondern tatsächlich, mit unerhörter Offensichtlichkeit.
Er begriff, dass irgendwann einmal seine Mama sterben würde. Nicht
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