Leben und Schicksal
»Gibt’s hier etwa Post? Solange wir hier sind, haben wir noch kein einziges Lebenszeichen erhalten, weder von der Großmutter noch von Genia, noch von Ljudmila … Wo ist Tolja, wo Serjoscha? Meinst du, du wirst das hier erfahren?«
Vera sagte: »Pawel Andrejewitsch hat doch auch einen Brief bekommen.«
»Die Benachrichtigung über einen Todesfall hat er bekommen.« Stepan Fjodorowitsch erschrak über seine eigenen Worte; er deutete mit der Hand auf die engen Wände des Unterstands und den Vorhang, der Veras Schlafstelle abtrennte, und sagte dann verlegen: »Ja, und was ist denn das hier für ein Leben für sie? Sie ist doch ein Mädchen, eine Frau, und hier lungern dauernd Männer herum, Tag und Nacht – mal Arbeiter, mal Militärschutz, immer ist ein Haufen Volk da –, die laut herumquatschen und rauchen.«
Andrejew sagte: »Haben Sie Mitleid mit dem Kind, es wird hier umkommen.«
»Und denk doch bloß, die Deutschen würden plötzlich eindringen. Was geschieht dann?«, sagte Stepan Fjodorowitsch.
Vera schwieg.
Sie redete sich ein, dass Viktorow eines Tages durch das zerstörte Tor von »Stalgres« treten würde und dass sie ihn schon von weitem in seinem Fliegeroverall, den hohen Schaftstiefeln und der schräg umgehängten Kartentasche erblicken würde.
Sie trat auf die Landstraße hinaus – vielleicht kam er gerade? Rotarmisten fuhren auf Lastwagen vorbei und schrien ihr zu: »He, Mädel, auf wen wartest du? Steig ein zu uns!«
Sie fand für einen Augenblick ihre Fröhlichkeit wieder und antwortete: »Der Lkw bringt mich nicht ans Ziel.«
Als sowjetische Flugzeuge über sie hinwegflogen, starrte sie auf die tieffliegenden Jäger, und ihr war, als würde sie jeden Augenblick Viktorow erkennen können.
Einmal hatte ein Jagdflugzeug, das über »Stalgres« flog, grüßend die Flügel geschwenkt; Vera hatte einen verzweifelten Schrei ausgestoßen, der wie der Schrei eines Vogels klang, war gerannt, gestolpert und gestürzt. Nach diesem Sturz hatte sie ein paar Nächte lang Schmerzen im Kreuz.
Ende Oktober hatte sie ein Luftgefecht über dem Elektrizitätswerk verfolgt. Der Kampf war unentschieden ausgegangen; die sowjetischen Maschinen flogen gen Wolken davon, die deutschen drehten ab und flogen nach Westen. Vera aber stand da und starrte in den leeren Himmel, und in ihren geweiteten Augen zeichnete sich eine solch irrsinnige Spannung ab, dass ein Monteur, der über den Hof ging, sie fragte: »Genossin Spiridonowa, was ist mit Ihnen? Sind Sie vielleicht angeschossen worden?«
Sie glaubte fest daran, dass sie Viktorow gerade hier, im »Stalgres«, wiedersehen würde, doch sie hatte das Gefühl, dass es ihr das Schicksal verübeln und ihnen daher das Wiedersehen versagen würde, wenn sie ihrem Vater etwas davon sagte. Manchmal war sie sich seines Kommens so sicher, dass sie sich eilig daranmachte, Roggenpiroschki mit Kartoffeln zu backen, hastig den Boden fegte, ihre Sachen umräumte und die schmutzigen Schuhe putzte. Manchmal, wenn sie mit dem Vater am Tisch saß, horchte sie auf und sagte: »Wart mal, ich komm gleich wieder.« Den Mantel um die Schultern geworfen, stieg sie aus ihrer unterirdischen Behausung an die Oberfläche und blickte sich um, ob nicht im Hof ein Flieger stünde und fragte, wie man zu den Spiridonows käme.
Nicht ein einziges Mal, nicht eine einzige Minute lang kam ihr in den Sinn, dass er sie vergessen haben könnte. Sie war überzeugt, dass Viktorow Tag und Nacht ebenso fest an sie dachte wie sie an ihn.
Das Elektrizitätswerk lag fast jeden Tag unter dem Beschuss schwerer deutscher Geschütze. Die Deutschen waren geschickter geworden und hatten sich eingeschossen; die Geschosse trafen gezielt auf die Wände der Werkshallen, ab und zu erschütterte Explosionsdonner die Erde. Oft kamen vereinzelt herumschwirrende Bomber angeflogen und warfen Bomben ab. Tief über den Boden schwärmende »Messer« feuerten Maschinengewehrsalven ab, wenn sie über das Elektrizitätswerk hinwegflogen. Manchmal tauchten auf den entfernten Hügeln deutsche Panzer auf, dann war das hastige Geknatter von Maschinengewehren deutlich zu hören.
Es schien, als hätte sich Stepan Fjodorowitsch an die Beschießungen und Bombardierungen gewöhnt; auch die übrigen Arbeiter des Elektrizitätswerks hatten sich anscheinend daran gewöhnt. Doch bei dieser scheinbaren Gewöhnung wurden die seelischen Kraftreserven bis aufs Letzte ausgeschöpft; manchmal wollte sich Spiridonow, von Erschöpfung übermannt, nur
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