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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und Chloe wiederholt sich zu allen Zeiten und überall – auch im stickigen Keller, der nach gebratenem Dorsch riecht, auch im Bunker eines Konzentrationslagers, auch unter dem Rascheln von Rechnungen in einem Buchhaltungsbüro, auch in der staubigen Luft einer Spinnerei.
    Und diese Geschichte erwachte zu neuem Leben inmitten von Ruinen, unter dem Geheul deutscher Sturzkampfflieger, dort, wo Menschen ihre schmutzigen, schweißverklebten Körper nicht mit Honig nährten, sondern mit faulen Kartoffeln und Wasser aus einem alten Heizungskessel, dort, wo es keine Stille gab, sondern nur geborstenen Stein, Lärm und Gestank.
    62
    Der alte Andrejew, der als Wächter im Elektrizitätswerk »Stalgres« arbeitete, erhielt einen eingeschriebenen Brief aus Leninsk, wohin seine Schwiegertochter evakuiert worden war; sie schrieb, dass seine Frau Warwara Alexandrowna an Lungenentzündung gestorben war.
    Auf diese Nachricht hin verdüsterte sich Andrejew völlig, ging nur noch selten zu den Spiridonows, saß an den Abenden am Eingang des Arbeiterwohnheims und sah zu, wie das Geschützfeuer und die Scheinwerferbündel über den bewölkten Himmel huschten. Manchmal redete man ihn im Wohnheim an, er aber schwieg. Dann wiederholte derjenige, der ihn angesprochen hatte, in der Annahme, der Alte höre schlecht, seine Frage lauter. Andrejew sagte finster: »Ich hör schon, bin doch nicht taub«, und schwieg wieder.
    Der Tod seiner Frau hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Leben hatte sich im Leben seiner Frau gespiegelt; Schlimmes und Gutes, das ihm widerfahren war, fröhliche und traurige Stimmungen, alles existierte erst, wenn es sich in Warwara Alexandrownas Seele spiegelte.
    Während eines besonders heftigen Angriffs, als tonnenschwere Bomben explodierten, hatte Andrejew auf die Woge aus Erde und Qualm geblickt, die zwischen den Werkshallen von »Stalgres« aufwirbelte, und dabei gedacht: »Ja, wenn das meine Alte sehen könnte … Ach, Warwara, das ist schon eine Wucht …« Doch zu der Zeit war sie bereits nicht mehr am Leben.
    Es schien ihm, als seien die Trümmer der durch Bomben und Granaten zerstörten Gebäude, der vom Krieg umgepflügte Hof, die Klumpen aus Erde und verbogenem Eisen, der bittere, feuchte Qualm und die echsenhaft kriechende gelbe Flamme der brennenden Ölisolatoren Ausdruck seines Lebens – das war ihm für den Rest seiner Tage geblieben.
    Hatte er wirklich einmal in einem hellen Zimmer gesessen, vor der Arbeit gefrühstückt, während seine Frau neben ihm stand und seine Bewegungen verfolgte, um ihm, falls es nötig war, noch einmal nachzuschenken?
    Ja, jetzt blieb ihm nichts mehr übrig, als allein zu sterben.
    Plötzlich erinnerte er sich an sie, als sie jung war, mit sonnengebräunten Armen und fröhlichen Augen.
    Was soll’s, die Stunde wird kommen, sie ist gar nicht mehr so fern.
    Eines Abends stieg er langsam die knarrenden Stufen zu den Spiridonows in den Unterstand hinunter. Stepan Fjodorowitsch betrachtete das Gesicht des Alten und fragte: »Geht’s schlecht, Pawel Andrejewitsch?«
    »Sie sind noch jung, Stepan Fjodorowitsch«, antwortete Andrejew. »Sie sind nicht so stark wie ich, aber nur ruhig Blut. Ich habe genug Kraft; ich komme allein hin.«
    Vera, die gerade einen Topf abwusch, blickte sich nach dem Alten um, da sie den Sinn seiner Worte nicht gleich erfasste.
    Andrejew, der das Gespräch auf ein anderes Thema lenken wollte – er brauchte von niemandem Mitgefühl –, sagte: »Es ist Zeit, Vera, Sie müssen von hier fort. Hier gibt’s kein Krankenhaus, nur Panzer und Flugzeuge.«
    Sie lächelte ein wenig und machte mit den nassen Händen eine abwehrende Bewegung.
    Stepan Fjodorowitsch stimmte verärgert zu: »Sogar unbekannte Leute reden ihr schon zu, sagen ihr, dass es für sie Zeit ist, sich ans linke Ufer zu schlagen. Gestern kam ein Mitglied des Armeekriegsrats vorbei, trat zu uns in den Unterstand, schaute Vera an – er sagte nichts, stieg ins Auto ein und beschimpfte mich: ›Sie sind doch wohl ihr Vater oder etwa nicht? Wenn Sie wollen, setzen wir sie auf dem Panzerboot über die Wolga.‹ Was soll ich denn machen? Sie will nicht, basta.«
    Er redete schnell, in einem Atemzug, wie Leute reden, die tagaus, tagein über ein und dasselbe streiten. Andrejew betrachtete den Ärmel seines Jacketts mit der ihm vertrauten Stopfstelle, die sich immer weiter ausgebreitet hatte, und schwieg.
    »Was können denn hier für Briefe ankommen?«, fuhr Stepan Fjodorowitsch fort.

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