Leben und Schicksal
Lächeln der gastfreundlichen Marja Iwanowna, und vor allem gefielen ihm die Gespräche, die sie am Tisch führten.
Wenn er dann spätabends heimkehrte und vor seinem Haus stand, packte ihn wieder die für eine kurze Weile gewichene Niedergeschlagenheit.
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Vom Institut ging Strum, ohne vorher zu Hause vorbeizuschauen, direkt zu seinem neuen Bekannten Karimow. Sie wollten gemeinsam die Sokolows besuchen.
Karimow war pockennarbig und fast hässlich. Seine dunkle Haut unterstrich das Grau der Haare, und die Haare ließen sein Gesicht noch dunkler erscheinen.
Karimow sprach ein korrektes Russisch. Erst wenn man genau hinhörte, merkte man die Spur eines Akzents in der Aussprache und im Satzbau.
Strum hatte früher nie von ihm gehört, erfuhr nun, dass sein Name nicht nur in Kasan bekannt war. Karimow hatte die »Göttliche Komödie« und »Gullivers Reisen« ins Tatarische übersetzt und arbeitete in letzter Zeit an einer Nachdichtung der »Ilias«.
Als sie noch gar nicht miteinander bekannt waren, waren sie sich oft im Raucherzimmer der Universitätsbibliothek begegnet. Die Bibliothekarin, eine schlampig gekleidete, gesprächige alte Frau mit geschminkten Lippen, teilte Strum viele Einzelheiten über Karimow mit: dass er die Sorbonne absolviert hatte, ein Sommerhaus auf der Krim besaß und vor dem Krieg die meiste Zeit des Jahres am Meer verbracht hatte. Der Krieg hatte seine Frau und seine Tochter auf der Krim ereilt – er hatte keine Nachricht von ihnen. Die Alte machte Andeutungen, dass es im Leben dieses Menschen acht Jahre schweren Leidens gab, aber Strum nahm diese Mitteilung mit verständnislosem Blick auf. Auch Karimow musste die Alte etwas über Strum erzählt haben. So wussten sie voneinander und empfanden Verlegenheit, dass sie nicht persönlich miteinander bekannt waren, aber wenn sie sich trafen, lächelten sie einander nicht zu, sondern machten stattdessen düstere Gesichter. Diese Situation endete damit, dass sie einander einmal in der Bibliotheksgarderobe in die Arme liefen, gleichzeitig loslachten und ein Gespräch begannen.
Strum wusste nicht, ob seine Gedanken für Karimow interessant waren, aber er, Strum, hatte Gefallen am Reden, wenn Karimow ihm zuhörte. Aus eigener Erfahrung wusste Viktor Pawlowitsch, wie oft es vorkam, dass man auf einen Gesprächspartner stieß, der scheinbar klug und scharfsinnig, zugleich aber unerträglich langweilig war.
Es gab Menschen, in deren Anwesenheit Strum kaum ein Wort über die Lippen brachte, seine Stimme wurde spröde, das Gespräch verlor alle Würze und Farbe, als unterhielten sich Blinde und Taube miteinander.
Es gab Menschen, in deren Anwesenheit jedes aufrichtige Wort geheuchelt klang.
Es gab Menschen, alte Bekannte, in deren Anwesenheit sich Strum besonders einsam fühlte.
Woher kam das? Nun, ebenso plötzlich konnte einem ein Mensch begegnen – der Reisegefährte, der Bettnachbar im Schlafwagen, ein zufälliger Gesprächspartner –, in dessen Anwesenheit man dieses tief in einem sitzende Schweigen auf einmal brach.
Sie gingen nebeneinanderher, unterhielten sich, und Strum bemerkte, dass ihm neuerdings seine Arbeit manchmal stundenlang nicht in den Sinn kam, besonders während der abendlichen Gespräche bei Sokolow. Er hatte das noch nie erlebt, war stets im Geist bei seiner Arbeit gewesen – in der Straßenbahn, beim Essen, während er Musik hörte oder sich morgens im Badezimmer das Gesicht abtrocknete.
Es musste wohl wirklich eine schlimme Sackgasse sein, in die er geraten war, da er unbewusst die Gedanken an die Arbeit von sich schob.
»Wie kamen Sie heute voran, Achmet Usmanowitsch?«, fragte er.
Karimow sagte: »Das Gehirn nimmt nichts auf. Ich habe dauernd an meine Frau und meine Tochter denken müssen, manchmal ist mir, als würde alles gut werden, und dann plagt mich die Ahnung, dass sie umgekommen sind.«
»Ich verstehe Sie«, sagte Strum.
»Ich weiß«, erwiderte Karimow.
Strum dachte: Merkwürdig, mit einem Mann, den er erst einige Wochen kannte, war er bereit, über Dinge zu sprechen, über die er vor Frau und Tochter kein Wort verlor.
65
Im kleinen Kasaner Zimmer der Sokolows versammelten sich fast jeden Abend Menschen, die in Moskau wahrscheinlich nie zusammengekommen wären.
Sokolow, ein überaus begabter Mann, erging sich in hochgestochenen Tiraden. Es war kaum zu glauben, dass er der Sohn eines Wolgamatrosen war, so glatt kamen ihm die Worte über die Lippen. Er hatte ein gutes Herz und ein romantisches Gemüt,
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