Leben und Schicksal
sein Gesichtsausdruck aber war schlau und hart.
Der Unterschied zum Wolgamatrosen bestand auch darin, dass Sokolow keinen Wodka anrührte, Angst vor Zugwind und Infektionen hatte, sich ständig die Hände wusch und die Brotkruste an jener Stelle abschnitt, an der er sie mit den Fingern berührt hatte.
Immer wenn Strum seine Arbeiten las, kam er aus dem Staunen nicht heraus: Dieser Mann – mit so eleganten und mutigen Gedankengängen, so lakonisch in seiner Darlegung und Beweisführung, solange es um die kompliziertesten und subtilsten Ideen ging – sonderte am Teetisch, langweilig und wortreich, heiße Luft ab.
Strum seinerseits liebte es, wie viele Menschen, die von Büchern umgeben im intellektuellen Milieu aufgewachsen waren, auch mal ein Slangwort in der Unterhaltung fallenzulassen, im Gespräch mit einem weißhäuptigen Akademiemitglied eine zänkische gelehrte Dame »dummes Weib« oder gar »alte Fuchtel« zu nennen.
Vor dem Krieg hatte Sokolow keine politischen Gespräche geduldet. Sobald Strum auf etwas Politisches zu sprechen kam, verstummte Sokolow, verschloss sich oder wechselte mit Nachdruck das Thema.
Er zeigte eine Art seltsamer Unterwürfigkeit und Arglosigkeit gegenüber den grausamen Ereignissen der Kollektivierung und der Säuberungen im Jahr 1937. Den Zorn des Staates empfand er gleichsam als Zorn der Natur oder Zorn einer Gottheit. Strum vermutete, dass Sokolow an Gott glaubte und dass dieser Glaube auch in seiner Arbeit, in der demütigen Ergebenheit vor den Mächtigen dieser Welt sowie in seinen persönlichen Beziehungen zum Ausdruck kam.
Einmal hatte ihn Strum geradeheraus gefragt: »Glauben Sie an Gott, Pjotr Lawrentjewitsch?« Doch Sokolow hatte eine finstere Miene aufgesetzt und keine Antwort gegeben.
Es war erstaunlich, dass sich nun Menschen abends bei den Sokolows einfanden, die über politische Themen sprachen, und Sokolow diese Gespräche nicht nur duldete, sondern sich sogar manchmal daran beteiligte.
Marja Iwanowna, klein, mager und in ihren Bewegungen so ungeschickt wie ein junges Mädchen, hörte ihrem Mann besonders aufmerksam zu. In dieser rührenden Aufmerksamkeit war alles enthalten: die schüchterne Ehrfurcht einer Schülerin, die Begeisterung einer verliebten Frau und die Nachsicht und Besorgtheit einer Mutter.
Zu Beginn der Gespräche tauschte man sich natürlich über die neuesten Kriegsmeldungen aus, doch dann entfernte man sich weit vom Krieg. Aber worüber auch gesprochen wurde, alles stand doch in Verbindung mit der Tatsache, dass die Deutschen bis zum Kaukasus und zum Unterlauf der Wolga vorgedrungen waren.
Die trübsinnigen Gedanken über die militärischen Schlappen erzeugten ein Gefühl verzweifelter Nonchalance – dann gehen wir eben alle vor die Hunde!
Man sprach über vieles an den Abenden in dem kleinen Zimmer; es war, als seien die Trennwände in dem begrenzten, abgeschlossenen Raum verschwunden und als redeten die Menschen nicht wie sonst miteinander.
Madjarow, der Historiker mit den dicken Lippen, dem großen Kopf und einer Haut, die wie eine Maske aus bläulich-bräunlichem Kautschuk wirkte – er war der Mann von Sokolows verstorbener Schwester –, erzählte manchmal Ereignisse aus dem Bürgerkrieg, die in den Geschichtsbüchern nicht zu finden waren. Er berichtete von dem Ungarn Gawro, dem Kommandeur des internationalen Regiments, vom Korpskommandeur Kriworutschko, von Boschenko und von dem blutjungen Offizier Schtschors, der befohlen hatte, die Mitglieder der Kommission, die seinen Stab im Auftrag des Revolutionären Kriegsrats überprüfen sollten, in seinem Waggon auszupeitschen. Er schilderte das schreckliche Schicksal von Gawros Mutter, einer alten ungarischen Bäuerin, die kein Wort Russisch verstand. Sie hatte ihren Sohn in der Sowjetunion besucht, und nach Gawros Verhaftung wurde sie von allen gemieden; man hatte Angst vor ihr, und sie irrte wie eine Verrückte durch Moskau, ohne sich verständigen zu können.
Madjarow sprach über die Wachtmeister und Unteroffiziere in den scharlachroten Reithosen mit Ledereinsatz, deren kahlgeschorene Schädel einen bläulichen Schimmer hatten; waren sie Divisions- und Korpskommandeure geworden, straften und begnadigten sie Menschen nach eigenem Gutdünken, und auf der Jagd nach einer Frau, auf die sie ein Auge geworfen hatten, verließen sie schon mal ihre Einheit … Er erzählte von den Kommissaren in den Regimentern und Divisionen, die schwarze Budjonny-Mützen aus Leder trugen, Nietzsches
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