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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Kriegsgefangene in die Sonderbaracke gescheucht worden waren, hatte Keise verlangt, dass sie ihm seine Lieblingslieder vortrugen.
    Vier Russen mit erloschenem Blick und geschwollenen Händen sangen:
    »Wo bist du, meine Suliko?«
    Keise wurde ganz melancholisch bei dem Vortrag; er lauschte und fixierte dabei einen der Männer, der ein wenig abseits stand und durch ungewöhnlich starke Backenknochen auffiel. Aus Respekt vor den Künstlern unterbrach er den Vortrag nicht, aber als sie geendet hatten, forderte er den Mann mit den hohen Backenknochen auf, da er nicht im Chor mitgesungen habe, müsse er nun ein Solo singen. Er musterte den schmutzigen Ausschnitt seines Militärhemdes, an dem noch die Spuren der abgetrennten Schulterstücke zu sehen waren, und fragte: »Verstehen Sie, Herr Major?«
    Der Mann nickte; er hatte verstanden.
    Keise packte ihn am Hemd und schüttelte ihn wie einen kaputten Wecker, und der Kriegsgefangene, der eben vom Transport gekommen war, stieß Keise die Faust ins Gesicht und beschimpfte ihn.
    Das Ende des Russen schien gekommen. Aber der Gauleiter der Sonderbaracke erschlug Major Jerschow nicht, sondern führte ihn zu den Pritschen in der Ecke am Fenster, die für seine Favoriten reserviert waren. Am gleichen Tag brachte er Jerschow ein hartgekochtes Gänseei und überreichte es ihm lachend mit den Worten: »Das macht Ihre Stimme schön.«
    Seither war Keise immer freundlich zu Jerschow, und auch seine Mitgefangenen begegneten ihm, der neben seiner unerschütterlichen Haltung einen sanften und fröhlichen Charakter hatte, mit Respekt.
    Einer der »Suliko«-Sänger, der Brigadekommissar Ossipow, ärgerte sich allerdings über den Vorfall mit Keise und nannte Jerschow einen »unangenehmen Kerl«.
    Mostowskoi dagegen erkannte in dem Major schon bald nach dem Vorfall den Meister der Gedanken der Lagerhäftlinge.
    Außer bei Ossipow war der Major noch bei Kotikow, einem verschlossenen, schweigsamen Kriegsgefangenen, der über alle alles wusste, unbeliebt. Kotikow war ein ganz und gar farbloser Mensch – farblose Stimme, Augen, Lippen. Er war so farblos, dass er schon wieder auffiel.
    An diesem Abend versetzte Keises gute Laune beim Appell die Männer in Unruhe und Furcht. Die Bewohner der Baracken rechneten immer mit dem Schlimmsten; Angst, Spannung und böse Ahnungen begleiteten sie, bald stärker, bald schwächer, Tag und Nacht.
    Gegen Ende der Abendkontrolle kamen acht Lagerpolizisten in die Sonderbaracke. Die Kapos trugen alberne Uniformen mit grellgelben Armbinden, und man sah ihren Gesichtern an, dass sie ihre Essnäpfe nicht in der allgemeinen Lagerküche füllten.
    Kommandiert wurden sie von einem gutaussehenden, großen blonden Mann in stahlfarbenem Mantel mit abgetrennten Offiziersstreifen. Unter dem Mantel schauten blankgeputzte Lackstiefel heraus.
    Das war König, der Chef der Lagerpolizei, ein SS-Mann, der wegen irgendwelcher Straftaten seines Ranges verlustig gegangen und ins Straflager verbannt worden war.
    »Mütze ab!«, schrie Keise.
    Die Durchsuchung begann. Mechanisch, wie Fließbandarbeiter klopften die Kapos alle Tische nach eventuellen Hohlräumen ab, schüttelten die Lumpen aus, tasteten mit geübten Fingern die Kleidernähte ab und schauten in die Essnäpfe.
    Hin und wieder stießen sie einen Gefangenen mit dem Knie in den Hintern und sagten: »Gesundheit.«
    Ihre Funde, Notizzettel oder Notizblöcke, auch mal eine Rasierklinge, zeigten sie König, und dieser machte durch einen Wink mit dem Handschuh deutlich, ob das Fundstück von Interesse war.
    Während der Durchsuchung standen die Gefangenen in Reih und Glied. Mostowskoi stand neben Jerschow und beobachtete Keise und König. Die beiden Gestalten sahen wie aus Bronze gegossen aus.
    Mostowskoi wankte, ihn schwindelte. Er deutete mit dem Finger in Keises Richtung und sagte zu Jerschow: »Was für ein Subjekt!«
    »Ein klassischer Arier«, erwiderte Jerschow und fügte hinzu, aber so leise, dass Tschernezow, der in ihrer Nähe stand, es nicht hören konnte: »Na, bei uns gibt’s auch solche, weiß Gott.«
    Als hätte er alles gehört, bemerkte Tschernezow: »Jedes Volk hat ein heiliges Recht auf Helden, Heilige und Schurken!«
    Mostowskoi sagte, zu Jerschow gewandt, aber nicht nur für dessen Ohren bestimmt: »Natürlich gibt’s auch bei uns Schweine, aber so ein deutscher Gewohnheitsmörder hat doch was ganz Besonderes an sich, was nur ein Deutscher haben kann.«
    Die Durchsuchung war zu Ende. Die Gefangenen durften

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