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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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auf ihre Pritschen zurückkehren.
    Mostowskoi streckte sich auf seinem Lager aus. Da fiel ihm ein, dass er nicht geprüft hatte, ob seine Sachen noch vollständig waren. Ächzend stand er wieder auf und schaute nach. Bald schien der Schal zu fehlen, bald ein Fußlappen, aber beides fand sich wieder, und doch konnte er ein Gefühl der Unruhe nicht loswerden.
    Kurz darauf kam Jerschow zu ihm und flüsterte ihm zu: »Der Kapo Nedselski schwatzt, sie wollen unseren Block auseinanderreißen. Ein Teil soll hier weiter bearbeitet werden, aber die meisten wollen sie ins allgemeine Lager schicken.«
    »Na und«, erwiderte Mostowskoi, »ist mir doch egal.«
    Jerschow setzte sich zu ihm auf die Pritsche und sagte leise und eindringlich: »Michail Sidorowitsch!«
    Mostowskoi stützte sich auf dem Ellbogen ab und schaute ihn fragend an.
    »Michail Sidorowitsch, ich habe mir eine ganz große Sache ausgedacht und werde Sie jetzt einweihen. Wenn schon sterben, dann zumindest mit Größe.« Er flüsterte, und Mostowskoi geriet bei seinen Worten in Erregung – eine frische Brise wehte ihn an.
    »Die Zeit ist kostbar«, sagte Jerschow, »wenn jetzt die Deutschen tatsächlich Stalingrad einnehmen, dann verlieren die Leute wieder alle Energie. Man sieht’s an Kirillow.«
    Jerschow schlug vor, einen Kampfbund der Kriegsgefangenen zu gründen. Er stellte aus dem Gedächtnis ein detailliertes Programm auf, so flüssig, als hätte er es gedruckt vor sich.
    »… Herstellung von Disziplin und Einheit aller Sowjetmenschen im Lager, Vertreibung der Spitzel unter ihnen, Schädigung des Feindes, Gründung von Kampfkomitees unter den polnischen, französischen, jugoslawischen und tschechischen Häftlingen …«
    Über die Pritschen hinweg in das Halbdunkel der Baracke hinein sagte er: »Es gibt da Leute aus der Waffenfabrik, die vertrauen mir; wir werden Waffen horten und den entscheidenden Schlag vorbereiten. Wir werden mit Dutzenden von Lagern Verbindung aufnehmen, die Verräter terrorisieren. Endziel ist der allgemeine Aufstand und ein geeintes freies Europa.«
    »Ein geeintes freies Europa … ach, Jerschow, Jerschow.«
    »Es ist mir ernst. Unser Gespräch ist der Anfang.«
    »Ich mach mit«, sagte Mostowskoi und wiederholte kopfschüttelnd: »Ein freies Europa … Es gibt ja hier schon eine Komintern-Sektion, sie besteht aus zwei Mann, einer davon ist parteilos!«
    »Sie sprechen doch Deutsch, Englisch und Französisch; wir können Tausende Beziehungen knüpfen«, erwiderte Jerschow. »Wozu noch eine Komintern – Lagerhäftlinge aller Länder, vereinigt euch!«
    Michail Sidorowitsch schaute Jerschow fest an und sprach die längst vergessenen Worte: »Es ist der Wille desVolkes«, 44 und er wunderte sich, dass ihm gerade diese Worte eingefallen waren.
    Und Jerschow sagte: »Man muss Ossipow und Oberst Slatokrylez für unsere Sache gewinnen. Ossipow wäre sehr wichtig; aber er kann mich nicht leiden. Sprechen Sie mit ihm, und ich spreche heute noch mit dem Obersten. Wir werden eine Vierergruppe bilden.«
    73
    Major Jerschows Gehirn arbeitete Tag und Nacht auf Hochtouren.
    Jerschow überdachte den Untergrundplan, der das ganze Lagerdeutschland einschloss, machte sich Gedanken über die Technik der Kommunikation der Untergrundorganisationen untereinander und prägte sich die Namen der Arbeits- und Konzentrationslager und der Bahnhöfe ein. Er dachte über die Schaffung eines Codes nach und darüber, wie man mit Hilfe der Leute in den Lagerkanzleien die Organisatoren des Widerstands in die Transportlisten einschleusen und sie auf diese Weise von einem Lager ins andere schaffen könnte.
    In seinem Herzen aber hegte er einen Traum! Tausende von Untergrundagitatoren und Sabotagehelden mussten in Kleinarbeit die mit Waffengewalt durch die Aufständischen herbeizuführende Machtergreifung in den Lagern vorbereiten. Die aufständischen Lagerhäftlinge mussten sich der Verteidigungsartillerie, mit der die Lagerobjekte ausgerüstet waren, bemächtigen und sie in Panzerabwehr- und Infanterieabwehrkampfmittel umwandeln. Man musste Flakschützen ausfindig machen und die von den Sturmtrupps eroberten Waffen bereits im Vorhinein einkalkulieren.
    Major Jerschow kannte das Lagerleben, kannte die Macht der Bestechung, der Angst, der Gier, sich den Bauch vollzuschlagen, sah, wie viele Männer ihre ehrlichen Feldblusen gegen die blauen Soldatenmäntel mit den Schulterstücken der Wlassow-Armee vertauschten. Niedergeschlagenheit sah er, Liebedienerei, Treuebruch

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