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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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im dritten.
    Der Friedhof in dem Lagergebiet verschmolz mit dem Dorf, dasselbe Moos überzog den Boden unter den Hütten und die Dächer der Erdhütten, die Grabhügel und Bulten. Und so würden die Mutter und die Schwestern unter diesem Himmel bleiben – im Winter, wenn der Frost die Feuchtigkeit ausfrieren lässt, und im Herbst, wenn die Friedhofserde aufquillt von der dunklen Jauche, die aus dem Moor kommt.
    Der Vater stand neben dem schweigenden Sohn, er schwieg ebenfalls, dann hob er den Blick, sah den Sohn an und breitete hilflos die Arme aus: »Verzeiht mir, ihr Toten und ihr Lebenden; ich habe die Menschen, die ich liebte, nicht schützen können.«
    Nachts erzählte der Vater. Er sprach ruhig, leise. Das, was ihm am Herzen lag, konnte er nur ruhig erzählen – mit Weinen, mit Tränen ließ es sich nicht aussprechen.
    Auf einer mit einer Zeitung bedeckten Kiste lagen die Gastgeschenke, die der Sohn mitgebracht hatte, auch eine Halbliterflasche stand darauf. Der alte Mann redete, und der Sohn saß neben ihm und hörte zu.
    Der Vater erzählte von der Hungersnot und vom Tod der Bekannten aus dem Dorf, von den wahnsinnig gewordenen alten Frauen und von den Kindern, deren Körper am Ende leichter waren als eine Balalaika, leichter als ein Hühnchen. Er erzählte, wie ihr Hungergeheul Tag und Nacht über dem Dorf erklungen war, er erzählte von den zugenagelten Hütten mit den erblindeten Fenstern.
    Er erzählte dem Sohn von der fünfzigtägigen Fahrt in einem Güterwagen mit undichtem Dach, von den Toten, die in dem Zug viele Tage lang gemeinsam mit den Lebenden fuhren. Er erzählte, wie die Zwangsumgesiedelten zu Fuß gegangen waren und wie die Frauen die Kinder auf den Armen getragen hatten, Jerschows kranke Mutter hatte diesen Fußmarsch überlebt, sie hatte sich im Fieber vorwärts geschleppt, ihr Verstand war getrübt. Er erzählte, wie sie in den Winterwald geführt worden waren, wo es weder Erd- noch Laubhütten gab, und wie sie dort ein neues Leben begannen: Feuer entfachten, Schlafstellen aus Fichtenzweigen errichteten, Schnee in Kochgeschirren auftauten, die Toten beerdigten …
    »Es war alles Stalins Wille«, sagte der Vater, und aus seinen Worten klang weder Gekränktsein noch Zorn – so sprechen einfache Menschen von dem mächtigen Schicksal, das keine Schwankungen kennt.
    Jerschow war aus dem Urlaub zurückgekommen und hatte an Kalinin ein Gnadengesuch geschrieben, in dem er um das Ungeheure bat – einen Unschuldigen zu begnadigen, er bat, Kalinin möge dem alten Mann erlauben, zu seinem Sohn zu kommen. Aber sein Brief war noch nicht in Moskau eingetroffen, als Jerschow zu seinen Vorgesetzten befohlen wurde – gegen ihn lag eine Meldung vor, eine Denunziation wegen seiner Reise in den Ural.
    Jerschow wurde aus der Armee entlassen. Er ging zum Bau; er hatte beschlossen, Geld zu verdienen und zu seinem Vater zu fahren. Aber schon bald traf ein Brief aus dem Ural ein – die Nachricht vom Tod des Vaters.
    Am zweiten Tag nach Kriegsbeginn wurde der Leutnant der Reserve Jerschow eingezogen.
    In der Schlacht bei Roslawl hatte er den gefallenen Regimentskommandeur ersetzt, die Flüchtigen gesammelt, auf den Gegner eingeschlagen, die Flussübergangsstelle zurückerobert und den Abzug der schweren Geschütze der Reserve des Oberkommandos gesichert.
    Je größer die Bürde wurde, die auf seinen Schultern lastete, desto stärker wurden seine Schultern. Er hatte seine Kräfte selbst nicht gekannt. Unterwürfigkeit, so schien es, war seinem Wesen fremd. Je stärker die Gewalt wurde, umso grimmiger und herausfordernder drängte es ihn, sich zu schlagen.
    Manchmal fragte er sich, weshalb ihm die Wlassow-Leute so verhasst waren. In den Wlassow’schen Aufrufen stand das, was sein Vater erzählt hatte. Er wusste schon, dass es die Wahrheit war. Doch er wusste auch, dass diese Wahrheit aus dem Mund der Deutschen und der Wlassow-Leute Lüge war.
    Er fühlte es, es war ihm klar, dass er im Kampf gegen die Deutschen für ein freies russisches Leben kämpfte, dass der Sieg über Hitler auch ein Sieg über jene Lager werden würde, in denen seine Mutter, seine Schwestern und sein Vater umgekommen waren.
    Jerschow empfand Kummer und Verbitterung – hier, wo die Personalakte eines Menschen keine Rolle spielte, entpuppte er sich als Kraft, folgte man ihm. Hier hatten weder hohe Ränge noch Orden, weder die Spezialabteilung noch die ersteAbteilung, 45 weder die Kaderverwaltung noch die Empfehlungskommission, weder ein

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