Leben und Schicksal
Tag ihres Lebens hat deine Großmutter auf Stalin gehofft; wir alle leben und atmen nur, weil wir Stalin und die Rote Armee haben … Lern du erst mal, deine Nase zu putzen, bevor du anfängst, mit Stalin ins Gericht zu gehen. Stalin war es, der dem Faschismus in Stalingrad den Weg versperrt hat.«
»Stalin sitzt in Moskau, und den Weg hat jemand ganz anderer versperrt; du weißt genau, wer«, sagte Nadja. »Mir machst du nichts vor. Alles, was ich sage, hast du selbst auch schon gesagt, wenn du von Sokolow zurückgekommen bist.«
Er fühlte eine neue Welle des Zorns auf Nadja in sich hochsteigen, und sie war so übermächtig, dass er glaubte, er könne ihr nie mehr gut sein.
»Nichts dergleichen habe ich gesagt, wenn ich von Sokolow kam, erfinde bitte nichts«, schrie er.
Ljudmila Nikolajewna sagte: »Wozu alle diese Gräuel heraufbeschwören, wenn sowjetische Kinder im Krieg für ihr Vaterland sterben müssen.«
Doch da nannte Nadja sie beim Namen, jene abgründige Schwäche, die der Vater in seinem Herzen verbarg: »Nein, natürlich hast du nichts gesagt, jetzt, wo du beruflich Erfolg hast und die Deutschen in Stalingrad festsitzen.«
»Was fällt dir ein«, erwiderte Viktor Pawlowitsch wütend, »wie kannst du es wagen, deinem Vater Unaufrichtigkeit vorzuwerfen! Ljudmila, hast du das gehört?«
Aber seine Frau kam ihm nicht zu Hilfe. Stattdessen sagte sie: »Wundert dich das? Sie hat es doch von dir. Es ist genau das, was du immer mit deinem Karimow und diesem widerlichen Madjarow geredet hast. Marja Iwanowna hat mir von euren Gesprächen erzählt; und du hast ja auch zu Hause genügend Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Ach, wenn wir doch nur schon wieder in Moskau wären!«
»Genug«, unterbrach sie Strum, »ich kann mir denken, was du mir noch alles Nettes sagen willst.«
Nadja verstummte, ihr Gesicht schien plötzlich gealtert, welk und hässlich. Sie wandte sich von ihrem Vater ab, und als er doch einen Blick von ihr auffing, war es ein Blick voller Hass, der ihn erschütterte.
Es war ganz schwül im Zimmer geworden von all den Vorwürfen und Ängsten, die in der Luft lagen. All das, was jahrelang in fast jeder Familie unterdrückt wird, was nur in bestimmten Augenblicken zum Vorschein kommt, um sofort wieder durch die Liebe und das Vertrauen verdrängt zu werden – all das war nun an die Oberfläche gedrungen und hatte so sehr von ihnen Besitz ergriffen, als gäbe es zwischen Vater, Mutter und Tochter nur Unverständnis, Misstrauen, Bosheit und Vorwürfe.
Als hätte ihr gemeinsames Schicksal nur Zwietracht und Fremdheit in ihnen erzeugt.
»Großmutter«, rief Nadja plötzlich.
Strum und seine Frau schauten gleichzeitig zu Alexandra Wladimirowna hin. Sie saß da, die Hände an die Stirn gepresst, als habe sie unerträgliche Kopfschmerzen. Es lag etwas unbeschreiblich Mitleiderregendes in ihrer Hilflosigkeit, die daher kam, dass offenbar keiner der Anwesenden ihren Schmerz brauchen konnte, dass sie nur störte und empörte, ja sogar einen Familienkrach heraufbeschworen hatte, dass sie, die ihr Leben lang stark und unbeugsam gewesen, in diesen Minuten alt, einsam und hilflos war.
Nadja kniete vor ihr nieder, presste die Stirn gegen ihre Knie und sagte leise:
»Großmama, liebe, gute Großmama.«
Viktor Pawlowitsch ging zur Wand und schaltete das Radio ein; in dem Papptrichter quietschte, heulte und pfiff es. Es hörte sich an, als würde ein nächtliches Herbstunwetter übertragen, das über der vorderen Kriegslinie, über den verkohlten Dörfern und Soldatengräbern, über Kolyma und Workuta, über Militärflughäfen und den von Schnee und Regen durchnässten Zeltplanen der Feldlazarette niederging.
Strum blickte in das düstere Gesicht seiner Frau, ging zu Alexandra Wladimirowna, nahm ihre Hände und küsste sie. Dann beugte er sich hinunter und strich Nadja über den Kopf.
Es hatte sich scheinbar nichts verändert in diesen Augenblicken; dieselben Menschen, dieselben Sorgen, dieselbe Schicksalsgemeinschaft. Nur sie selbst spürten die wohltuende Wärme, die innerhalb weniger Sekunden ihren erbitterten Herzen Trost gebracht hatte.
Plötzlich tönte eine schallende Stimme: »Im Laufe des Tages haben unsere Truppen im Raum Stalingrad, Nord-Ost-Tuapse und im Gebiet Naltschik Feindberührung gehabt. An den übrigen Frontabschnitten ist die Lage unverändert.«
11
Leutnant Peter Bach war wegen einer Kugelverletzung an der Schulter ins Lazarett gekommen. Die Wunde erwies sich als
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