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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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hatte er in der Baracke neben einem Schaposchnikow geschlafen.
    »Ich wusste sofort, dass er von Mitja sprach. Er erzählte: Liegt auf der Pritsche und pfeift dauernd ›Alle Vögel sind schon da‹ … Mitja war kurz vor seiner Verhaftung noch einmal bei mir gewesen und hatte auf alle meine Fragen gelacht und ›Alle Vögel sind schon da …‹ gepfiffen … Der Mann fährt heute Abend mit dem Lastwagen nach Laischewo weiter, wo seine Familie wohnt, Mitja sei krank, hat er erzählt – Skorbut, und am Herzen hat er’s auch. Er sagt, Mitja glaube nicht daran, freizukommen; er habe ihm von mir und von Serjoscha erzählt. Gearbeitet habe Mitja in der Küche; das gilt als besonders leichte Arbeit.«
    »Und dafür hat er zwei Hochschulexamen absolvieren müssen!«, sagte Strum.
    »Ist der Kerl auch kein beauftragter Provokateur?«, gab Ljudmila zu bedenken.
    »Ach, wer hätte wohl was davon, eine alte Frau zu provozieren!«
    »Ja, aber für Viktor interessiert man sich an gewisser Stelle sehr.«
    »Ach, Ljudmila, hör doch auf«, fuhr Viktor Pawlowitsch dazwischen.
    »Warum ist er denn frei? Hat er dir das erklärt?«, schaltete sich jetzt Nadja ein.
    »Was er erzählt hat, ist alles so unwahrscheinlich. Wie wenn er aus einer ganz anderen Welt käme; ich kann es gar nicht recht glauben … Es ist, als hätten sie dort ihre eigenen Gebräuche, ihr eigenes Mittelalter, ihre Neuzeit, ihre eigenen Sprichwörter. Ja, ich habe ihn gefragt, warum man ihn freigelassen hat. Da war er ganz erstaunt: ›Ja, wissen Sie denn das nicht; sie haben mich abgeschrieben …‹ Natürlich verstand ich ihn nicht. Offenbar ist es so, dass man diejenigen, die am Ende sind, die Todeskandidaten, freilässt. Sie haben da so eine Einteilung im Lager –Zupacker 2 , Aufsteiger, Nutten … Ich habe ihn gefragt, was das für ein Urteil sei: zehn Jahre kein Recht auf Briefwechsel, das haben ja 1937 tausende von Menschen bekommen. Er sagt, er habe nie einen mit diesem Urteil getroffen, und dabei war er doch in Dutzenden von Lagern. Ja – wo denn diese Leute hingekommen seien? Er sagt, er wisse es nicht, in den Lagern seien sie jedenfalls nicht.
    Holzfäller. Lebenslängliche. Zwangsumgesiedelte … Mir ist von seinen Geschichten so schwer ums Herz geworden. Und Mitja hat dort auch gelebt und auch ›Zupacker, Aufsteiger und Nutten‹ gesagt. Dann hat mir dieser Mann noch erzählt, wie die Leute in den Sümpfen von Kolyma Selbstmord begehen. Sie essen einfach nichts mehr und trinken ein paar Tage lang nur Sumpfwasser; sie sterben an einem Ödem; untereinander sagen sie dann: ›Der hat Wasser getrunken … hat angefangen, Wasser zu trinken, klar, wenn er herzkrank ist.‹«
    Sie sah Strums angespanntes, schmerzerfülltes Gesicht und die finster gerunzelten Brauen ihrer Tochter; sie spürte, dass ihr Gesicht glühte und ihr Mund trocken wurde.
    »Er sagt«, fuhr sie fort, »das Schlimmste, viel schlimmer als das Lager, sei die Fahrt, der Transport; da ist man den Kriminellen ausgeliefert; sie ziehen die politischen Häftlinge aus, nehmen ihnen die Nahrungsmittel weg, spielen um ihr Leben; wer verliert, muss einen Menschen erstechen, und das ahnungslose Opfer weiß nicht einmal, dass man Karten um sein Leben gespielt hat. Noch schlimmer ist, dass auch im Lager die Verbrecher das Sagen haben – sie sind Barackenälteste, Brigadiere bei der Holzaufbereitung; die Politischen sind völlig entrechtet, man duzt sie; die Kriminellen haben Mitja ›Faschist‹ geschimpft. Unseren Mitja haben Mörder und Diebe einen ›Faschisten‹ genannt.«
    Dann sagte Alexandra Wladimirowna plötzlich ganz laut, als spräche sie vor einer Versammlung: »Diesen Mann hat man aus dem Lager, in dem Mitja war, nach Syktywkar gebracht; im ersten Kriegsjahr kam ein Mann namens Kaschketin aus der Zentrale in die Lagergruppe, in der Mitja geblieben war, und organisierte die Hinrichtung von zehntausend Gefangenen.«
    »Oh, mein Gott«, stöhnte Ljudmila Nikolajewna. »Weiß denn Stalin von diesen Gräueln?«
    »Oh, mein Gott«, äffte Nadja ihre Mutter nach und fügte wütend hinzu: »Verstehst du denn nicht, Stalin selbst hat diesen Tötungsbefehl gegeben.«
    »Nadja«, fuhr Strum auf, »sei still!«
    Nadja hatte einen wunden Punkt berührt, und Strum reagierte darauf wie die meisten anderen Menschen in einem solchen Fall – er wurde wütend und schrie Nadja an: »Vergiss nicht – Stalin ist der Oberkommandierende unserer Armee, die gegen den Faschismus kämpft; bis zum letzten

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