Leben und Schicksal
kam, sah er einen Mantel an der Garderobe hängen, den er kannte: Karimow war da.
Karimow legte die Zeitung weg, und Strum registrierte, dass Ljudmila den Gast offenbar nicht hatte unterhalten wollen.
Karimow sagte: »Ich komme gerade von der Kolchose, habe dort einen Vortrag gehalten.« Er fügte hinzu: »Machen Sie bitte keine Umstände. Man hat mich dort gemästet; unser Volk ist ja so unerhört gastfreundlich.«
Also hatte ihm Ljudmila nicht einmal eine Tasse Tee angeboten!
Wenn Strum das zerknitterte Gesicht Karimows mit der breiten Nase aufmerksam betrachtete, konnte er einige kleine, kaum wahrnehmbare Abweichungen vom russisch-slawischen Durchschnittstyp bemerken. Doch in manchen kurzen Augenblicken, wenn Karimow plötzlich den Kopf wandte, fügten sich alle diese kleinen Abweichungen zum Gesicht eines Mongolen zusammen.
Auf diese Weise hatte Strum auf der Straße schon in so manchem blonden, helläugigen Menschen mit kerzengerader Nase einen Juden erkannt. Etwas kaum Wahrnehmbares verriet die jüdische Herkunft – manchmal ein Lächeln oder die Art, erstaunt die Stirn zu furchen, die Augen zusammenzukneifen oder die Achseln zu zucken.
Karimow begann von seiner Begegnung mit einem Leutnant zu erzählen, der als Verwundeter zu seinen Eltern aufs Land gekommen war. Offenbar war Karimow eigens wegen dieses Leutnants heute zu Strum gekommen: »Ein guter Junge«, sagte Karimow, »er hat ganz offen über alles gesprochen.«
»Auf Tatarisch?«, fragte Strum.
»Natürlich.«
Strum dachte, dass er, wenn er einen verwundeten jüdischen Leutnant träfe, mit ihm sicher nicht jiddisch sprechen könnte; er konnte allenfalls ein Dutzend Worte Jiddisch, und davon waren die meisten scherzhafte Worte wie »bekizer« oder »chaloimes« 1 .
Der Leutnant war im Herbst 1941 bei Kertsch in deutsche Gefangenschaft geraten. Als ihn die Deutschen einmal ausschickten, das vom Schnee verwehte, nicht eingeholte Getreide als Futter für die Pferde freizuschaufeln, hatte er sich in einem günstigen Augenblick aus dem Staub gemacht. Die russische und tatarische Bevölkerung hatte ihn danach gedeckt.
»Ich bin jetzt doch ganz zuversichtlich, dass ich Frau und Tochter wiedersehen werde«, meinte Karimow, »bei den Deutschen gibt es offenbar, genau wie bei uns, solche und solche. Der Leutnant hat gesagt, viele Krimtataren verschwinden in die Berge, obwohl die Deutschen ihnen nichts tun.«
»Ich bin als Student mal in den Krimbergen herumgestiegen«, sagte Strum und dachte daran, wie seine Mutter ihm Geld für diese Bergtour geschickt hatte. »Hat Ihr Leutnant auch Juden gesehen?«
Ljudmila steckte den Kopf zur Tür herein: »Mama ist noch immer nicht da, ich mache mir Sorgen.«
»Ach, wo soll sie schon sein«, sagte Strum zerstreut, und als Ljudmila die Tür geschlossen hatte, fragte er noch einmal: »Was erzählt denn Ihr Leutnant von den Juden?«
»Er hat gesehen, wie man eine jüdische Familie, eine alte Frau und zwei junge Mädchen, zur Erschießung getrieben hat.«
»O Gott«, stöhnte Strum.
»Ja, und außerdem hat er von Lagern in Polen gehört, wo man die Juden hinbringt, tötet und ihre Leichen zerstückelt wie auf dem Schlachthof. Aber das ist sicher Unsinn. Ich habe ihn eigens über die Juden ausgefragt, weil ich wusste, dass Sie das interessiert.«
»Warum nur mich?«, dachte Strum. »Interessiert das andere Menschen etwa nicht?«
Karimow überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Ja, ich habe vergessen, er hat auch noch erzählt, dass die Deutschen angeblich den Befehl gegeben haben, alle jüdischen Säuglinge auf die Kommandantur zu bringen, wo man ihnen die Lippen mit irgendeinem farblosen Zeug eingeschmiert hat, sodass sie sofort starben.«
»Neugeborene?«, fragte Strum ungläubig.
»Ach, das ist sicher auch so eine Erfindung wie das mit den Lagern, wo die Leichen zerstückelt werden.«
Strum ging im Zimmer auf und ab; dann sagte er: »Wenn man bedenkt, dass heutzutage Neugeborene umgebracht werden! Da sind doch alle kulturellen Errungenschaften vollkommen sinnlos. Was hat Goethe die Menschen denn gelehrt? Oder Bach? – Neugeborene bringen sie um!«
»Ja, es ist entsetzlich«, nickte Karimow.
Strum sah Karimows Mitgefühl, aber er sah auch seine Freude darüber, dass ihm der Leutnant Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Frau und Kind gemacht hatte, während Strum genau wusste, dass er seine Mutter nach dem Sieg nie mehr wiedersehen würde.
Karimow wollte gehen, aber Strum mochte sich noch nicht von ihm
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