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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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trennen und beschloss, ihn zu begleiten.
    »Wissen Sie«, sagte Strum plötzlich, »wir sowjetischen Wissenschaftler sind doch in einer glücklichen Lage. Was muss in einem anständigen deutschen Physiker oder Chemiker vorgehen, wenn er weiß, dass seine Entdeckungen einem Hitler dienen? Stellen Sie sich nur mal einen jüdischen Physiker vor, dessen Verwandte man wie tollwütige Hunde erschlägt und der sich über eine Entdeckung freut, die, ohne dass er es will, obendrein auch noch das Militärpotenztial des Faschismus stärkt. Er sieht das alles, begreift alles und kann doch nicht umhin, sich über seine Entdeckung zu freuen – schrecklich!«
    »Ja«, erwiderte Karimow, »aber ein intelligenter Mensch kann sich eben nicht dazu zwingen, nicht mehr zu denken.«
    Sie traten auf die Straße, und Karimow sagte: »Sie sollten mich aber nicht begleiten. Das Wetter ist scheußlich, und Sie sind doch gerade erst nach Hause gekommen – und jetzt schon wieder raus …«
    »Macht nichts«, entgegnete Strum. »Ich bringe Sie ja nur bis zur Ecke.«
    Er sah seinem Begleiter ins Gesicht und fügte hinzu: »Ich gehe gern noch ein paar Schritte mit Ihnen, auch wenn das Wetter scheußlich ist.«
    Karimow ging schweigend, Strum hatte den Eindruck, er sei in Gedanken versunken und habe nicht gehört, was er gesagt hatte, Als sie an der Ecke angelangt waren, blieb Strum stehen:
    »Also dann, verabschieden wir uns hier.«
    Karimow drückte ihm fest die Hand.
    »Sie werden jetzt bald nach Moskau zurückkehren«, sagte er gedehnt. »Wir werden Abschied nehmen müssen. Schade, ich war immer sehr gern mit Ihnen zusammen.«
    Strum schlenderte gedankenvoll zurück und bemerkte nicht, dass er angesprochen wurde. Madjarow sah ihn mit seinen dunklen Augen an. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen.
    »Was ist los?«, fragte er. »Gibt’s unsere Versammlungen nicht mehr? Sie lassen sich ja überhaupt nicht mehr blicken, Pjotr Lawrentjewitsch ist schon ganz sauer auf mich.«
    »Ja, es tut mir auch leid, das können Sie mir glauben«, versicherte Strum. »Aber wir haben dort im Eifer des Gesprächs doch allerhand dummes Zeug geredet.«
    »Wer achtet schon auf ein unbedacht gesagtes Wort?«, entgegnete Madjarow. Strum sah sein Gesicht dicht vor sich. Die geweiteten, großen, traurigen Augen waren noch dunkler und trauriger als sonst. »Es hat wirklich sein Gutes, dass unsere Versammlungen aufgehört haben«, sagte Madjarow.
    »Wieso?«, fragte Strum.
    »Ich muss Ihnen etwas sagen«, stieß Madjarow kurzatmig hervor, »mir scheint, der alte Karimow arbeitet. Verstehen Sie? Sie sehen sich ja wohl häufig.«
    »Unsinn, das glaube ich nie im Leben!«, rief Strum aus.
    »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass alle seine Freunde und alle Freunde seiner Freunde schon seit zehn Jahren von der Bildfläche verschwunden sind? Von seinem ganzen Umfeld ist nichts mehr da, nur er allein blüht und gedeiht: als Doktor der Wissenschaften.«
    »Na und?«, fragte Strum. »Sie und ich sind doch auch Doktoren der Wissenschaften.«
    »Na eben, das meine ich ja. Denken Sie mal über diese wunderbare Fügung nach. Ich glaube, dann werden wohl auch Sie begreifen …«
    10
    »Vitja, Mama ist gerade erst nach Hause gekommen«, sagte Ljudmila. Alexandra Wladimirowna saß am Tisch mit einem Tuch um die Schultern; sie zog eine Tasse Tee zu sich heran und schob sie gleich wieder weg. Schließlich sagte sie: »Also, ich hab mit dem Mann gesprochen, der Mitja kurz vor dem Krieg noch gesehen hat.«
    In ihrer Erregung sprach sie besonders ruhig und langsam. Sie erzählte, die Wohnungsnachbarn einer Kollegin von ihr, einer Werkslaborantin, hätten für ein paar Tage Besuch von einem Landsmann bekommen. Die Kollegin habe zufällig in seinem Beisein den Nachnamen Alexandra Wladimirownas erwähnt und der Gast habe gleich gefragt, ob diese Alexandra Wladimirowna nicht einen Verwandten namens Dmitri habe.
    Alexandra Wladimirowna war daraufhin nach der Arbeit zu jener Kollegin gegangen, und dort hatte sich herausgestellt, dass dieser Mann vor kurzem erst aus einem Gefangenenlager freigekommen war, dass er vorher Korrektor gewesen war und sieben Jahre abgesessen hatte, weil er den Druck eines Leitartikels zugelassen hatte, in dem die Setzer beim Nachnamen des Genossen Stalin einen Buchstaben vertauscht hatten. Vor Kriegsausbruch hatten sie ihn wegen eines Disziplinarvergehens in ein Lager mit besonders strengem Regime im Fernen Osten geschickt, in eines von den »Seenlagern«, und dort

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