Leben und Schicksal
unwirklich vor.
Beim Einsteigen in den Sanitätswagen hatte er Leonhard den gesunden Arm um die Schulter gelegt, sie hatten sich in die Augen gesehen und gelacht.
Nie hätte er gedacht, dass er in einem Bunker von Stalingrad mit einem SS-Mann aus einer Kanne trinken, dass er durch die von Bränden erleuchteten Ruinen dieser Stadt zu seiner russischen Geliebten eilen würde.
Etwas Erstaunliches war in dieser letzten Zeit mit ihm geschehen. Lange Jahre hatte er Hitler gehasst. Als er grauhaarige Professoren schamlos verkünden hörte, Faraday, Darwin und Edison seien ein Haufen Scharlatane gewesen, die die deutsche Wissenschaft bestohlen hätten, und Hitler sei der größte Gelehrte aller Völker und Zeiten, da hatte er schadenfroh gedacht: »Das ist ja der reinste Altersschwachsinn, das muss ja schiefgehen.« Und das gleiche Gefühl hatten in ihm die Romane erweckt, in denen mit geradezu erschütternder Heuchelei makellose Menschen, das Glück der nationalsozialistischen Arbeiter und Bauern und die kluge Erziehungsarbeit der Partei geschildert wurden. Und erst die jämmerlichen Verse, die in den Zeitungen abgedruckt wurden! Ihn hatte das besonders geschmerzt – er hatte als Gymnasiast selbst Gedichte geschrieben.
Doch in Stalingrad hatte er dann plötzlich den Wunsch verspürt, in die Partei einzutreten. Als Junge hatte er sich aus Angst, sein Vater könne ihm seine Überzeugung ausreden, die Ohren zugehalten und geschrien: »Ich will nichts hören, ich will nicht, ich will nicht …«
Aber diesmal hatte er gehört! Die Welt hatte sich um ihre eigene Achse gedreht. Es wurde ihm immer noch schlecht, wenn er an die miserablen Theaterstücke und Filme dachte. Vielleicht würde das Volk einige Jahre lang, zehn Jahre, ohne Poesie auskommen müssen, da half alles nichts. Doch auch heute war es möglich, die Wahrheit zu schreiben. Und diese große Wahrheit war die deutsche Seele, nur sie verlieh der Welt ihren Sinn. Hatten doch schon die deutschen Meister der Renaissance in ihren Werken, die im Auftrag von Fürsten und Bischöfen entstanden waren, die größten geistigen Werte zum Ausdruck gebracht.
Krapp, der im Schlaf offenbar an dem nächtlichen Kampf teilnahm, schrie plötzlich so laut, dass man es sicher draußen hören konnte: »Granate, eine Granate, da!« – Er wollte wegkriechen, drehte sich ungeschickt um und stöhnte auf vor Schmerz. Dann schlief er schnarchend weiter.
Selbst das Blutgericht, das über die Juden verhängt worden war und das Bach zunächst mit Schaudern erfüllt hatte, stellte sich ihm jetzt anders dar. Wenn es nach ihm ginge, würde zwar der Massenmord an den Juden sofort eingestellt, schon weil er eine Menge jüdischer Freunde hatte. Andererseits war aber nicht zu leugnen, dass es einen typisch deutschen Charakter, ein deutsches Wesen gab, und wenn es das gab, dann gab es auch einen typisch jüdischen Charakter und ein jüdisches Wesen.
Der Marxismus hatte Schiffbruch erlitten! Das einzusehen war schwer gewesen für jemanden, dessen Eltern und Verwandte Sozialdemokraten waren.
Marx war wie ein Physiker, der seine Theorie des Aufbaus der Materie allein auf die Kräfte der Abstoßung gründete und die weltweit wirksamen Kräfte der Anziehung ignorierte. Er hatte die Kräfte der Klassenabstoßung definiert, hatte sie besser als jeder andere durch die Menschheitsgeschichte zurückverfolgt; aber er hatte sich in der für Entdecker typischen Selbstüberschätzung eingebildet, allein die von ihm definierten Kräfte des Klassenkampfes bestimmten den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung und der Geschichte. Er hatte die mächtigen Kräfte des nationalen klassenübergreifenden Zusammenhalts unterschätzt, und seine Sozialphysik, die auf der Missachtung des Gesetzes der weltweit wirksamen nationalen Schwerkräfte beruhte, war widerlegt worden.
Der Staat war nicht die Wirkung, sondern die Ursache!
Ein geheimnisvolles göttliches Gesetz bestimmt die Geburt eines Nationalstaates! Er bildet eine lebendige Einheit, er allein bringt zum Ausdruck, was Millionen von Menschen an besonders Wertvollem, Unsterblichem in sich tragen – den deutschen Charakter, das deutsche Heim, den deutschen Willen, den deutschen Opfermut.
Eine Zeitlang lag Bach mit geschlossenen Augen da. Um endlich einschlafen zu können, dachte er an eine Schafherde – ein weißes, ein schwarzes, wieder ein weißes, wieder ein schwarzes, wieder ein weißes und wieder ein schwarzes …
Morgens, nach dem Frühstück, machte er sich
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