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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Engländern bei Dünkirchen, in Norwegen und Griechenland, die aber nicht durch die Einnahme der Britischen Inseln gekrönt worden war; die fantastischen Siege im Osten, der tausend Kilometer lange Durchbruch zur Wolga, dem aber nicht die endgültige Vernichtung der sowjetischen Armeen gefolgt war – immer hatte es so ausgesehen, als sei das Wichtigste geschafft und als sei es nur ein unbedeutender Aufschub, wenn die Sache nicht sofort zu Ende gebracht werden konnte …
    Was waren denn schon diese paar hundert Meter, die ihn noch von der Wolga trennten, die halbzerstörten Fabriken, die verkohlten, leer emporragenden Häuserruinen im Vergleich mit den grandiosen Weiten, die während der Sommeroffensive genommen worden waren … Doch auch Rommel trennten von der ägyptischen Oase nur wenige Kilometer Wüste, und zu einem vollen Triumph über das besiegte Frankreich fehlten bei Dünkirchen nur einige wenige Stunden und Kilometer.
    Immer und überall fehlten nur wenige Kilometer bis zur endgültigen Niederwerfung des Feindes, immer und überall leere Flanken, riesige Weiten im Rücken der siegreichen Truppen, zu wenig Reserven.
    Der Sommer ging zu Ende! Das, was er in jenen Tagen erlebt hatte, würde ihm wahrscheinlich kein zweites Mal im Leben beschieden sein. Er hatte den Hauch Indiens im Gesicht gespürt. Wenn eine Lawine, die Wälder niederreißt und Flüsse aus ihren Betten zwingt, einer Empfindung fähig wäre, dann hätte sie genau das empfinden müssen, was er in jenen Tagen gefühlt hatte.
    Damals war ihm auch der Gedanke gekommen, dass sich das Ohr des Deutschen eben an den Klang des Namens Friedrich gewöhnt habe – ein scherzhafter, nicht ernstzunehmender Gedanke natürlich, aber dennoch … Gerade in jenen Tagen des Triumphs hatte hin und wieder ein lästiges Sandkorn im Schuh gedrückt oder zwischen den Zähnen geknirscht. Im Stab hatten Siegesstimmung und freudige Erregung geherrscht; er hatte von den Kommandeuren der Einheiten schriftliche, mündliche, Funk- und Telefonberichte entgegengenommen; es hatte ganz so ausgesehen, als betreibe man nicht mehr schweres Kriegshandwerk, sondern verleihe dem deutschen Triumph symbolischen Ausdruck …
    Das Telefon schrillte. Paulus nahm den Hörer ab. »Herr Generaloberst …« Er erkannte den Sprecher an der Stimme, und der Ton des Kriegsalltags harmonierte so gar nicht mit den Siegesglocken in Luft und Äther.
    Divisionskommandeur Weller meldete, die Russen seien in seinem Abschnitt zum Angriff übergegangen, dabei sei es einer ihrer Infanterieabteilungen, die etwa die Stärke eines größeren Bataillons hatte, gelungen, nach Westen durchzubrechen und den Bahnhof von Stalingrad zu besetzen.
    Wieder stellte sich jenes quälende Gefühl ein, wenngleich die Nachricht an sich wenig Gewicht zu haben schien.
    Schmidt las den Entwurf des Angriffsbefehls vor, mit leicht gestrafften Schultern und erhobenem Kinn, ein Zeichen dafür, dass er sich im Dienst fühlte, auch wenn zwischen ihm und seinem Chef eine gute persönliche Beziehung bestand.
    Plötzlich sagte General Paulus leise und gar nicht militärisch oder generalstabsgemäß etwas Seltsames und für Schmidt äußerst Beunruhigendes: »Ich glaube an den Erfolg. Aber wissen Sie was? Unser Kampf in dieser Stadt ist vollkommen unnötig und sinnlos.«
    »Eine recht überraschende Äußerung für den Chef der Truppen in Stalingrad«, erwiderte Schmidt.
    »Sie finden das überraschend? Stalingrad als Verkehrsknotenpunkt und Zentrum der Schwerindustrie existiert nicht mehr. Was sollen wir hier noch? Die Nordostflanke der Kaukasus-Armeen lässt sich entlang der Linie Astrachan-Kalatsch abschirmen. Stalingrad braucht man dafür nicht. Ich glaube an den Erfolg, Schmidt: Wir werden das Traktorenwerk einnehmen. Aber damit werden wir unsere Flanke nicht decken. Von Weichs zweifelt nicht daran, dass die Russen losschlagen. Der Bluff wird sie nicht aufhalten.«
    Schmidt sagte: »Im Verlauf der Ereignisse ändert sich ihre Bedeutung, aber der Führer hat noch immer alles zu Ende geführt, was er angefangen hat.«
    Aber gerade darin sah Paulus den Kern allen Übels, dass die glänzendsten Siege eben nicht beharrlich und entschlossen zu Ende geführt worden waren und daher nicht die erhofften Früchte trugen. Gleichzeitig schien ihm, als zeige sich im Verzicht auf die Lösung militärisch sinnlos gewordener Aufgaben die eigentliche Stärke eines Feldherrn.
    Doch als er in die beharrlich forschenden, klugen Augen Schmidts sah, sagte

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