Leben und Schicksal
müssen ja dem Torwart noch was aufheben.«
»Der Teufel soll ihn holen, den Torwart, nicht wahr, Leutnant«, sagte Krapp.
»Soll er doch seine vaterländische Pflicht erfüllen, wir trinken derweilen«, sagte Fresser. »Jeder will schließlich leben.«
»Meine Kehrseite ist schon wieder ganz munter«, meinte der Aufklärer. »Jetzt noch so ’ne mollige Kleine …«
Allen wurde leicht und froh ums Herz.
»Also, auf geht’s, zum Wohl«, und Gerne hob sein Glas.
Sie tranken noch einmal leer.
»Prima, dass gerade wir in ein Zimmer gekommen sind.«
»Ich hab’s gleich gewusst: ›Das sind richtige Kerle‹, hab ich mir gesagt, ›harte Frontkämpfer‹.«
»Ich hatte, um ehrlich zu sein«, gab Gerne zu, »gewisse Bedenken wegen Bach, hab gedacht, der ist von der Partei.«
»Nein, ich bin parteilos.«
Alle hatten ihre Decken abgeworfen, weil ihnen heiß geworden war. Sie fingen an, von der Front zu sprechen.
Kresser hatte an der linken Flanke in der Nähe der Ortschaft Okatowka gekämpft.
»Der Teufel soll sich mit dem Russen auskennen«, sagte er. »Aufs Angreifen versteht er sich überhaupt nicht. Aber jetzt haben wir schon Anfang November, und wir kommen auch nicht voran. Wie oft haben wir uns im August zugeprostet: ›Auf dass wir uns nach dem Krieg nicht aus dem Auge verlieren … Wir müssen unbedingt einen Verein der Stalingradkämpfer gründen …‹«
»Die Russen können ganz gut angreifen«, meinte der Aufklärer Krapp, der im Industrieviertel gekämpft hatte. »Was sie nicht können, ist eine Position sichern. Kaum haben sie uns aus einem Haus verjagt, gehen sie schlafen oder fressen, und die Kommandeure machen sich über den Wodka her.«
»Wilde sind das«, sagte Fresser und zwinkerte mit den Augen. »Wir haben auf diese Stalingrader Wilden schon mehr Eisen verschossen als auf ganz Europa.«
»Nicht nur Eisen«, warf Bach ein. »Bei uns in der Kompanie gibt es schon Leute, die ganz grundlos weinen, und andere, die wie Hähne krähen.«
»Wenn sich die Sache bis zum Winter nicht entscheidet«, sagte Gerne, »dann geht der chinesische Krieg los. Ein sinnloses Gedränge wird das.«
Krapp schaltete sich ein: »Wissen Sie, unser Angriff wird vom Industrieviertel aus vorbereitet; dort sind so viele Einheiten zusammengezogen worden wie nie zuvor. Die werden alle in den nächsten Tagen losschlagen. Am zwanzigsten November werden wir alle mit den Saratower Mädchen schlafen.«
Durch das mit Vorhängen verhangene Fenster hörte man breit rollenden, schweren Geschützdonner und das Heulen der nächtlichen Kampfflugzeuge.
»Das ist ein russischer Luftangriff«, sagte Bach. »Jetzt ist die Zeit, wo sie bombardieren. Manche nennen sie ›Nervensägen‹.«
»Bei uns im Stab nennt man sie ›Unteroffizier vom Dienst‹«, sagte Gerne.
»Still«, Krapp hob den Finger. »Hört ihr, das sind die besseren Kaliber!«
»Und wir trinken hier Cognac im Leichtverletztenzimmer!«, sagte Fresser.
Zum dritten Mal an diesem Tag mussten sie alle lachen.
Sie sprachen von den russischen Frauen. Jeder hatte etwas zu erzählen. Bach hasste solche Gespräche, aber an diesem gemütlichen Abend erzählte auch er von Sina, die im Keller eines zerstörten Hauses wohnte; und er erzählte so flott, dass alle lachen mussten.
Ein Sanitäter trat ein, betrachtete die fröhliche Runde und begann, das Bett des Torwarts abzuziehen.
»Habt ihr den Berliner Vaterlandsverteidiger als Simulanten rausgeschmissen?«, wollte Fresser wissen.
»He, Sanitäter, warum antwortest du nicht?«, fragte Gerne.
»Wir sind alle Männer. Wenn etwas ist mit ihm, kannst du’s uns ruhig sagen.«
»Er ist tot«, sagte der Sanitäter. »Herzversagen.«
»Da kann man mal wieder sehen, wohin patriotische Reden führen«, kommentierte Gerne ungerührt.
Aber Bach wies ihn zurecht: »So spricht man nicht von einem Toten. Er hat ja nicht geheuchelt, warum sollte er. Es war ihm ganz ernst. Also, lasst ihn in Frieden ruhen, Kameraden.«
»Oh, ich hab’s doch geahnt, dass der Herr Leutnant gekommen ist, uns das Wort der Partei zu verkünden. Ich habe mir gleich gedacht: Der ist vom neuen braunen Schlag.«
12
In dieser Nacht fand Bach keinen Schlaf. Zu ungewohnt war der Komfort dieser neuen Umgebung. Er dachte an den Unterstand, die Kameraden, die Ankunft Leonhards, wie sie zusammen durch die offene Tür des Gefechtsstandes den Sonnenuntergang betrachtet, Kaffee aus der Thermoskanne getrunken und geraucht hatten. Heute kam ihm das schon ganz
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