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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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er war zu dem Hausherrn von Stalingrad wie zu Besuch gekommen. Es ärgerte ihn, dass Tschuikow offenbar wusste, was ihn dazu gebracht hatte, die Wolga zu überqueren, dass er wusste, welche Sorge und Angst den Befehlshaber der Front auf seinen Spaziergängen durch das raschelnde, trockene Schilf in Krasni Sad erfüllten.
    Jeremenko fragte nun den Herrn dieser Feuerwüste aus – über die Manövrierung der Reserven, über das Zusammenwirken von Infanterie und Artillerie und über die Konzentration der Deutschen im Fabrikenbezirk. Er stellte Fragen, und Tschuikow antwortete in dem Ton, in dem man auf die Fragen des Oberkommandierenden zu antworten hatte.
    Sie verstummten. Tschuikow hätte gerne gefragt: »Die größte Verteidigung in der Geschichte, aber wie wär’s trotzdem mit einer Offensive?«
    Doch er sagte lieber nichts; Jeremenko hätte denken können, dass es den Verteidigern von Stalingrad vielleicht an Geduld mangelte, dass sie ihn bäten, die Last von ihren Schultern zu nehmen.
    Plötzlich fragte Jeremenko: »Dein Vater und deine Mutter leben, glaube ich, im Gebiet Tula auf dem Land?«
    »Jawohl, Genosse Befehlshaber.«
    »Schreibt dir der Alte?«
    »Jawohl, Genosse Befehlshaber. Er arbeitet noch.«
    Sie sahen einander an. Die Gläser von Jeremenkos Brille färbten sich im Abglanz der Feuersbrunst rosa.
    Es schien, als würden sie nun gleich auf das einzige Thema zu sprechen kommen, das beiden auf der Seele lag, nämlich die Bedeutung Stalingrads. Doch Jeremenko sagte: »Dich interessiert wahrscheinlich die Frage, die dem Befehlshaber der Front immer gestellt wird, die Frage nach dem Nachschub von Truppen und Munition?«
    Das einzige Gespräch, das in dieser Stunde einen Sinn gehabt hätte, fand also nicht statt.
    Der auf dem Uferkamm stehende Posten schaute zu ihnen hinunter; Tschuikow, der mit den Augen einem Geschoss folgte, hob den Blick und sagte: »Der Rotarmist denkt wahrscheinlich: Was stehen denn da für zwei Dummköpfe am Wasser?«
    Jeremenko schnaufte und bohrte in der Nase.
    Es kam der Moment, da man Abschied nehmen musste. Nach ungeschriebenem Gesetz verlässt ein Führer, der im Feuer steht, erst dann den Ort, wenn seine Untergebenen ihn darum bitten. Doch Jeremenkos Gleichgültigkeit der Gefahr gegenüber war so total und selbstverständlich, dass ihn diese Regeln nicht berührten.
    Zerstreut und gleichzeitig scharf beobachtend, folgte er mit einer Wendung des Kopfes einer vorbeipfeifenden Granate.
    »Na denn, Tschuikow, für mich ist’s Zeit zu gehen.«
    Tschuikow stand noch einige Augenblicke am Ufer und sah dem davonfahrenden Panzerboot nach; das schaumige Kielwasser erinnerte ihn an ein weißes Taschentuch, so als winke ihm eine Frau zum Abschied.
    Jeremenko stand an Deck und sah zum anderen Wolgaufer hinüber – es wogte auf und ab in dem diffusen Licht, das von Stalingrad ausging, während der Fluss, über den das Boot sprang, starr wie eine Steinplatte war.
    Jeremenko ging verdrossen von einer Bordwand zur anderen. Zig Gedanken gingen ihm wie üblich durch den Kopf. Neue Aufgaben standen der Front bevor. Die Hauptsache war jetzt die Massierung von Panzerverbänden und die ihm vom Oberkommando aufgetragene Vorbereitung des Schlags auf die linke Flanke. Mit keinem Wort hatte er Tschuikow gegenüber etwas davon erwähnt.
    Tschuikow kehrte in seinen Unterstand zurück, und der MP-Schütze, der am Eingang stand, der Melder im Gang, der auf seinen Anruf hin erschienene Stabschef der Gurjew-Division – alle, die aufsprangen, als sie seinen schweren Gang vernahmen, sahen, dass der Armeeoberbefehlshaber zerstreut war. Und das hatte seinen Grund.
    Da schmolzen die Divisionen eine nach der anderen zusammen, da schnitten im Hin und Her der Angriffe und Gegenangriffe die deutschen Keile Meter um Meter kostbarer Stalingrader Erde ab. Da waren zwei frische Infanteriedivisionen aus der deutschen Etappe angekommen und im Bezirk der Traktorenfabrik massiert worden; sie verharrten in unheilverkündender Stille.
    Nein, Tschuikow hatte dem Befehlshaber der Front gegenüber nichts von seinen Befürchtungen, Sorgen und schwarzen Gedanken geäußert.
    Doch weder der eine noch der andere wusste, weshalb er so unzufrieden war. Das Wichtigste an der Begegnung ging über das eigentliche Geschehen hinaus, bestand in etwas, das sie beide nicht laut auszusprechen gewagt hatten.
    14
    Als Major Berjoskin an einem Oktobermorgen erwachte, dachte er an Frau und Tochter, an die überschweren Maschinengewehre, horchte

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