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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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auf den Geschützdonner, der ihm in dem Monat seines Stalingrader Daseins vertraut geworden war, rief den MP-Schützen Gluschkow und befahl ihm, Waschwasser zu bringen.
    »Kaltes, wie Sie befohlen haben«, sagte Gluschkow lächelnd und freute sich über das Wohlbehagen, das die Morgenwäsche bei Berjoskin auslöste.
    »Im Ural, wo meine Frau und meine Tochter sind, hat es wahrscheinlich schon ein bisschen geschneit«, sagte Berjoskin, »sie schreiben mir nicht, können Sie das verstehen?«
    »Sie werden schon schreiben, Genosse Major«, sagte Gluschkow.
    Während sich Berjoskin abtrocknete und das Feldhemd anzog, erzählte ihm Gluschkow, was in den Morgenstunden vorgefallen war.
    »Beim Lebensmittelblock hat ein Geschoss eingeschlagen, den Lagerwart hat es erwischt, im zweiten Bataillon ist der stellvertretende Stabschef zum Austreten hinausgegangen und hat dabei einen Granatsplitter in die Schulter abgekriegt. Die Soldaten vom Pionierbataillon haben einen Zander gefangen, der von einer Bombe betäubt worden war; ungefähr fünf Kilo schwer; ich hab ihn mir angeschaut; sie haben ihn dem Bataillonskommandeur, Hauptmann Mowschowitsch, als Geschenk gebracht. Der Genosse Kommissar war da und hat angeordnet, dass Sie, wenn Sie aufgewacht sind, anrufen sollen.«
    »In Ordnung«, sagte Berjoskin. Er trank eine Tasse Tee, aß Kalbsfußsülze, rief den Kommissar und seinen Stabschef an, sagte, dass er sich auf den Weg zum Bataillon mache, zog seine wattierte Jacke an und ging zur Tür.
    Gluschkow schüttelte das Handtuch aus, hängte es an den Nagel, tastete nach der Granate an seiner Hüfte, klopfte sich die Tasche ab, ob der Tabak auch an seiner Stelle war, holte die Maschinenpistole aus der Ecke und folgte dem Regimentskommandeur.
    Berjoskin trat aus dem halbdunklen Unterstand hinaus, das helle Licht blendete ihn. Das Bild vor ihm war seit einem Monat unverändert – das lehmige Geröll, die braune Böschung, ganz übersät mit den Flecken speckig gewordener Zeltplanen, die die Soldatenbunker abdeckten, die rauchenden Schornsteine der selbstgebauten Öfen. Darüber hoben sich die Fabrikgebäude, die keine Dächer mehr hatten, dunkel ab.
    Weiter links zur Wolga hin ragten die Schlote der Fabrik »Roter Oktober« in den Himmel, türmten sich Güterwaggons um eine umgekippte Lokomotive auf, wie eine in Panik geratene Herde, die sich um den Leichnam ihres getöteten Leittieres zusammendrängt! Und noch weiter in der Ferne sah man das breite Spitzenband der Ruinen der toten Stadt: In Tausenden von Flecken leuchtete der Herbsthimmel hellblau durch die leeren Fensterhöhlen.
    Zwischen den Fabrikhallen stieg Rauch auf, flackerte eine Flamme, und die klare Luft war gleichzeitig von langgezogenem Rauschen und von trockenem, abgehacktem Poltern erfüllt. Es schien, als liefe die Arbeit in den Fabriken auf vollen Touren.
    Berjoskin musterte aufmerksam seine dreihundert Meter Erde, die Verteidigungsstellung des Regiments – sie verlief zwischen den kleinen Häusern einer Arbeitersiedlung. Sein morgendliches Gefühl half ihm, in dem Gewirr von Ruinen und kleinen Straßen herauszuspüren, in welchem Haus Rotarmisten Grütze kochten und in welchem deutsche MP-Schützen Speck aßen und Schnaps tranken.
    Berjoskin duckte sich und fluchte, eine Granate kam durch die Luft gezischt.
    Auf dem gegenüberliegenden Abhang der Schlucht verdeckte Rauch den Eingang eines der Unterstände, und gleich darauf folgte eine laute Explosion. Aus dem Unterstand schaute der Verbindungschef der Nachbardivision heraus – hemdsärmelig und in Hosenträgern. Er hatte kaum einen Schritt getan, als es wieder pfiff, der Verbindungschef zog sich schleunigst zurück und schlug die Tür zu – die Granate explodierte in einer Entfernung von ungefähr zehn Metern. In der Tür des Unterstandes, der an der Ecke von Schlucht und Wolga-Abhang lag, hatte Batjuk gestanden und das Ganze beobachtet.
    Als der Verbindungschef einen Schritt vorwärts machen wollte, brüllte Batjuk: »Feuer!« – und die Deutschen feuerten, wie auf Bestellung, eine Granate ab.
    Batjuk bemerkte Berjoskin und rief ihm zu: »Morgen, Nachbar!« Dieser Gang über den ungeschützten Pfad war im Grunde ein lebensgefährliches Unterfangen: Die Deutschen, ausgeschlafen und satt vom Frühstück, beobachteten den Pfad mit besonderem Interesse; ohne Munition zu sparen, schossen sie auf alles, was sich bewegte. An einer Wegbiegung blieb Berjoskin bei einem Schrotthaufen stehen, schätzte mit dem Auge den

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