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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Piwowarow. »Entweder hat er Pech gehabt – oder Glück.«
    Piwowarow wollte gleichzeitig feststellen, ob es Sinn hatte, den kranken Regimentskommandeur ins Sanitätsbataillon bringen zu lassen. Nachdem er mit Mühe (unterwegs hätte ihn fast ein deutscher Granatsplitter getötet) ins Stabsquartier zurück gefunden hatte, erzählte er dem MP-Schützen Gluschkow, dass es die Bedingungen im Sanitätsbataillon nicht erlaubten, den Kranken zu behandeln. »Überall Berge von blutiger Gaze, Mull und Watte – grässlich.« Gluschkow sagte darauf: »Da ist es natürlich im Unterstand besser für ihn, Genosse Kommissar.«
    »Ja«, nickte der Kommissar. »Dort unterscheidet man auch nicht zwischen Regimentskommandeuren und gemeinen Soldaten. Alle liegen auf dem Boden.«
    Und Gluschkow, der seinem Rang nach auf dem Boden schlief, sagte: »Das geht natürlich nicht.«
    »Hat er etwas gesagt, während ich weg war?«, fragte Piwowarow.
    »Ach, woher«, winkte Gluschkow ab. »Er hat noch nicht mal den Brief von seiner Frau gelesen, der heute gekommen ist; der liegt noch ungeöffnet neben ihm.«
    »Ist das wahr?«, sagte Piwowarow. »Dann ist er wirklich schwer krank – dass er ihn nicht einmal anschaut, ts, ts, ts.«
    Er nahm den Brief, las die Adresse, wog ihn in der Hand, hielt ihn Berjoskin vors Gesicht und sagte streng und eindringlich »Iwan Leontjewitsch, da ist ein Brief für Sie von Ihrer Frau.«
    Er wartete eine Weile und fügte dann in ganz anderem Ton hinzu: »Wanja, versteh doch, von deiner Frau! Verstehst du denn nicht, Wanja?«
    Aber Berjoskin verstand nicht.
    Sein Gesicht war rot; die glänzenden Augen schauten Piwowarow durchdringend und verständnislos an.
    An diesem Tag pochte der Krieg mit aller Macht an die Tür des Unterstands, in dem der kranke Regimentskommandeur lag. Seit der Nacht waren fast alle Telefonverbindungen unterbrochen, nur das Telefon in Berjoskins Wohnbunker funktionierte aus irgendeinem Grund einwandfrei, und so kamen dort laufend Gespräche aus der Division, aus der operativen Abteilung des Armeestabs, vom Nachbarregimentskommandeur Gurjew und von Berjoskins Bataillonskommandeuren Podtschufarow und Dyrkin an. Ständig drängten sich Leute im Quartier, ständig knarrte die Tür und schlug die Zeltbahn, die Gluschkow am Eingang aufgehängt hatte. Unruhe und Erwartung erfüllten die Leute vom frühen Morgen an. Dieser Tag, an dem nur träges Artilleriefeuer und gelegentliche, unsaubere Luftangriffe zu verzeichnen waren, bestätigte viele in ihrer schmerzlichen Ahnung, dass ein deutscher Generalangriff bevorstand. Diese Ahnung quälte Tschuikow ebenso wie den Regimentskommissar Piwowarow, die Leute, die im Haus »sechs Strich eins« saßen, und den Kommandeur des Schützenzugs, der seit dem Morgen Wodka trank und seinen Geburtstag neben dem Fabrikschlot im Stalingrader Traktorenwerk feierte.
    Jedes Mal, wenn die Gespräche in Berjoskins Unterstand besonders interessant oder lustig wurden, blickten sich alle nach dem Regimentskommandeur um – hörte er denn wirklich nichts?
    Kompaniechef Chrenow erzählte Piwowarow mit leicht erkälteter Stimme, wie er vor Tagesanbruch den Keller, in dem sich sein Gefechtsstand befand, verlassen, sich auf einen Stein gesetzt und gelauscht habe, ob die Deutschen Unfug machten. Plötzlich habe vom Himmel herab eine verärgerte Stimme gerufen: »He, Chren, altes Haus, warum hast du die Lichter nicht angezündet?«
    Chrenow habe für einen Augenblick die Fassung verloren – wer im Himmel kannte denn seinen Nachnamen? –, er habe es schon mit der Angst zu tun bekommen, aber dann habe sich herausgestellt, dass ein kleines russisches Flugzeug den Motor abgeschaltet hatte und im Gleitflug über seinem Kopf schwebte; der Pilot wollte offenbar Proviant für Haus »sechs Strich eins« abwerfen und ärgerte sich, dass die vordere Linie nicht markiert war.
    Im Unterstand blickten sich alle nach Berjoskin um – lächelte er? Doch nur Gluschkow hatte den Eindruck, als blitzten die glänzenden, glasigen Augen des Kranken auf. Es wurde Mittag. Die Leute gingen essen. Der Unterstand leerte sich. Berjoskin lag still, und Gluschkow seufzte: Da lag Berjoskin und neben ihm der langersehnte Brief! Piwowarow und der Major, der neue Stabschef, der den gefallenen Koschenkow abgelöst hatte, waren essen gegangen, aßen köstlichen Borschtsch und tranken ihre 100 Milliliter Wodka. Der Koch hatte Gluschkow schon mit dem köstlichen Borschtsch bewirtet. Aber der Regimentskommandeur und

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