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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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alten Bauern, der sich für seine Frau und seine Enkelin geopfert hatte, waren ihm sogar die Tränen in die Augen getreten. Doch bald darauf hatte Krymow in der Wandzeitung einen Artikel desselben Koloskow über die Kulaken gelesen, die ihr Korn in der Erde vergrüben und von abgrundtiefem Hass auf alle Keime des Neuen erfüllt seien.
    Warum hatte er das geschrieben, er, der vor Erschütterung sogar hatte weinen müssen? Warum hatte Mostowskoi geschwiegen? Etwa nur aus Feigheit? Wie oft hatte Krymow das eine gesagt und etwas anderes gedacht … Wenn er aber sprach oder schrieb, dann schien es ihm, als denke und glaube er auch, was er da sagte und schrieb. Und hin und wieder sagte er zu sich selbst: »Es hilft nichts, für die Revolution muss das eben so sein.«
    Da war alles Mögliche vorgekommen. Schlecht hatte er seine Freunde verteidigt, von deren Unschuld er doch überzeugt war. Manchmal hatte er geschwiegen, manchmal gebrüllt, manchmal, noch schlimmer, weder geschwiegen noch gebrüllt. Hin und wieder hatte man ihn ins Parteikommissariat, ins Rayon-, Stadt- oder Gebietskomitee zitiert, hin und wieder auch zu den Sicherheitsorganen, hatte ihn über verschiedene Bekannte und Parteimitglieder ausgefragt. Verleumdet, angezeigt oder denunziert hatte er allerdings nie jemanden … Aber schlecht und schwach hatte er seine bolschewistischen Freunde verteidigt. Hatte Erklärungen geschrieben …
    Und Grekow? Grekow war ein Feind. Mit Feinden hatte Krymow nie lange gefackelt, nie Mitleid gehabt.
    Aber warum hatte er die Beziehung zu den Familien verfolgter Genossen abgebrochen? Warum hatte er sie nie mehr besucht, sie nicht einmal angerufen? Immerhin war er, wenn er Verwandte seiner inhaftierten Freunde auf der Straße getroffen hatte, nie auf die andere Straßenseite hinübergewechselt, sondern hatte sie begrüßt.
    Es gab aber auch Leute – gewöhnlich waren es alte Weiber, Hausfrauen und parteilose Kleinbürgerinnen –, über die man Päckchen in die Straflager schicken, an die man Post aus den Lagern adressieren lassen konnte und die sich einfach nicht fürchteten. Manchmal nahmen diese alten Frauen mit ihren religiösen Vorurteilen, die als Haushaltshilfen und Kinderwärterinnen arbeiteten, Waisen bei sich auf, Kinder, deren Väter und Mütter verhaftet worden waren, und retteten sie so vor Heimen und Sammelstellen. Die Parteimitglieder aber fürchteten jene Waisen wie das Feuer. Waren etwa diese alten Kleinbürgerinnen, diese alten Jungfern und analphabetischen Kinderfrauen redlicher und mutiger als die Bolschewisten-Leninisten Mostowskoi und Krymow?
    Warum denn nur? War es Angst? Oder nur Feigheit?
    Es gibt Angst, die man überwinden kann, die Angst des Kindes vor dem Finstern, die des Soldaten vor der Schlacht und die des jungen Mannes vor dem ersten Fallschirmabsprung.
    Aber dies war eine besondere Angst, eine schreckliche, für Millionen Menschen unüberwindliche Angst, es war die mit grellroten Buchstaben an den bleigrauen Winterhimmel über Moskau geschriebene Angst – vor dem Staat.
    Nein, nein! Die Angst allein konnte diese gewaltige Arbeit nicht leisten! Das revolutionäre Ziel war es, das die Menschen im Namen der Moral von jeglicher Moral befreite, das im Namen der Zukunft die Pharisäer, Denunzianten und Heuchler der Gegenwart rechtfertigte, das erklärte, warum man um des Volkes willen Unschuldige in die Grube stoßen musste. Diese Kraft, die sich Revolution nannte, ließ es zu, dass man sich von Kindern lossagte, deren Eltern in Straflagern waren. Sie erklärte, warum die Revolution eine Frau, die ihren völlig unschuldigen Mann nicht denunzieren wollte, ihren Kindern entreißen und für zehn Jahre ins Lager schicken musste.
    Die Kraft der Revolution hatte sich mit der Todesangst, der Angst vor der Folter und dem namenlosen Schrecken verbündet, der alle lähmte, die sich vom Hauch der fernen Straflager berührt fühlten.
    Früher wussten die Menschen, die in die Revolution zogen, dass sie das Gefängnis, Zwangsarbeit, Jahre der Unbehaustheit und Heimatlosigkeit oder das Schafott erwartete.
    Das Beunruhigendste, Verwirrendste und Schlimmste an der jetzigen Situation aber war, dass die Revolution die Treue zu sich und ihrem großen Ziel mit reichlicher Verpflegung, Mittagessen im Kreml, Ministerrationen, Privatwagen, Dienstreisen zu verlockenden Zielen und internationalen Komfortreisen erkaufen musste.
    »Schlafen Sie nicht, Nikolai Grigorjewitsch?«, fragte Spiridonow aus dem Dunkel.
    »Doch,

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