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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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unterdrücken.
    Er kam in das Sonderkommando, weil der Chef als guter Menschenkenner seinen weichen, weiblichen Charakter erkannt hatte.
    Es gefiel ihm durchaus nicht, dass er zuschauen musste, wie sich in der Gaskammer die Juden in Todesqualen wanden, und im Stillen waren ihm die Soldaten, die hier gerne arbeiteten, unheimlich. Als besonders unangenehm empfand er den Kriegsgefangenen Schutschenko, der die Morgenwache am Eingang in die Kammer hatte. Auf seinem Gesicht lag stets ein kindliches und daher besonders widerwärtiges Lächeln. Rose mochte seine Arbeit nicht, aber er wusste ihre offiziellen und inoffiziellen Vorteile zu schätzen.
    Jeden Abend, wenn der Dienst zu Ende war, übergab ihm ein stämmiger Zahnarzt ein kleines Päckchen mit einigen Goldkronen. Diese kleinen Päckchen waren ein winziger Teil dessen, was an Edelmetall in die Lagerverwaltung gelangte, doch Rose hatte seiner Frau schon zweimal ungefähr ein Kilo Gold übergeben können. Das war ihre Altersversorgung – die Erfüllung des Traums von einem sorglosen Lebensabend.
    Als junger Mann war er schwach und gehemmt gewesen, dem Existenzkampf nicht gewachsen. Er hatte nie daran gezweifelt, dass die Partei nur das eine Ziel hatte, den Schwachen und Kleinen zu helfen, und er hatte die Segnungen der Politik Hitlers ja bereits am eigenen Leibe verspürt – er war schließlich auch einer von den Schwachen, den Kleinen gewesen, und für ihn und seine Familie hatten sich die Lebensbedingungen entscheidend gebessert.
    43
    Tief in seinem Herzen entsetzte sich Anton Chmelkow gelegentlich über seine Arbeit, und wenn er sich abends auf seine Pritsche legte und hörte, wie Trofim Schutschenko lachte, dann überkam ihn kaltes Grausen.
    Die Hände Schutschenkos mit den langen, dicken Fingern, die den hermetischen Verschluss der Gaskammer bedienten, machten immer einen ungewaschenen Eindruck, und es widerstrebte Chmelkow, Brot aus dem Brotkorb zu nehmen, wenn Schutschenko ebenfalls seine Hand danach ausstreckte.
    Schutschenko empfand freudige Erregung, wenn er zur Morgenschicht aufbrach und darauf wartete, dass sich von den Geleisen her die Menschenkolonne näherte. Die Kolonne bewegte sich für sein Gefühl viel zu langsam; seiner Kehle entrang sich vor Ungeduld ein dünner Klagelaut, und seine Kiefer zitterten leicht, wie bei einer Katze, die Spatzen durch die Fensterscheibe beobachtet.
    Für Chmelkow war dieser Mann der Grund seiner inneren Unruhe. Natürlich konnte auch Chmelkow mal einen heben und betrunken an einer Frau herummachen, auf die die Gaskammer wartete. Es gab da eine kleine Hintertür, durch die die Angehörigen des Sonderkommandos in den Auskleideraum gehen und sich eine Frau aussuchen konnten. Ein Mann ist ein Mann, Chmelkow suchte sich eine Frau aus oder ein junges Mädchen, führte sie in ein leeres Abteil der Baracke und übergab sie nach einer halben Stunde wieder dem Wächter in dem Menschenpferch. Er schwieg, und die Frau schwieg auch. Er war nicht der Weiber und des Weins wegen da, nicht wegen der Reithosen aus Gabardine, nicht wegen der Chromlederstiefel, wie sie der Kommandant trug.
    An einem Julitag des Jahres 1941 war er in Gefangenschaft geraten. Man hatte ihm mit dem Gewehrkolben ins Genick und über den Schädel geschlagen; er hatte blutige Ruhr bekommen, war mit zerfetzten Stiefeln durch den Schnee gehetzt worden, hatte gelbes Wasser trinken müssen, auf dem Öllachen schwammen; er hatte mit den Händen stinkende, schwarze Fleischfetzen von Pferdekadavern gerissen, hatte faule Rüben und Kartoffelschalen gefressen. Er hatte nur eines gewollt: am Leben bleiben, und er hatte x Tode überlebt — den Hunger und den Kältetod, den Tod durch Blutdiarrhö und den Tod mit neun Gramm Blei im Kopf; er wollte nicht aufgeschwemmt werden und sein Herz an dem Wasser ersticken lassen, das aus den Füßen aufstieg. Er war kein Verbrecher, er war Friseur aus Kertsch, und nie hatte jemand schlecht von ihm gedacht, weder Verwandte noch Nachbarn, weder die Meister im Laden noch die Freunde, mit denen er Wein trank, geräucherte Meeräsche aß und Domino spielte. Er dachte daher, dass er mit Schutschenko nichts gemein habe, und doch schien ihm manchmal, dass der Unterschied zwischen ihnen ganz unerheblich war. Welchen Unterschied machte es denn – für Gott und die Menschen –, ob einer freudig oder unwillig zur Arbeit ging, solange es dieselbe Arbeit war?
    Doch was er nicht verstand, war, dass Schutschenko ihn nicht dadurch beunruhigte, dass

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