Leben und Schicksal
fast«, antwortete Krymow.
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören.«
40
Mehr als eine Woche war verstrichen seit der nächtlichen Vorladung Mostowskois zu Obersturmbannführer Liss. Mostowskois fieberhafte Spannung und Erwartung war tiefer Niedergeschlagenheit gewichen.
Minutenlang schien es ihm jetzt, als sei er von Freund und Feind für immer vergessen, als hielten ihn die einen wie die anderen für einen ohnmächtigen, altersschwachsinnigen Greis, einen nutzlosen Todgeweihten.
An einem klaren, windstillen Morgen führte man ihn ins Bad. Diesmal ging der SS-Begleitposten nicht mit hinein, sondern setzte sich auf die Stufen, legte seine MP neben sich und zündete sich eine Zigarette an. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien warm, und der Soldat hatte offenbar keine Lust, die feuchte Badestube zu betreten.
Der Kriegsgefangene, der im Bad Dienst tat, kam auf Mostowskoi zu und sagte: »Guten Tag, lieber Genosse Mostowskoi.«
Mostowskoi schrie vor Überraschung leise auf: Vor ihm stand, einen Lumpen schwenkend, in Uniformjacke mit Revierarmbinde, Brigadekommissar Ossipow.
Sie umarmten sich, und Ossipow sagte hastig: »Es ist mir gelungen, mich hier im Bad zur Arbeit einteilen zu lassen; ich hab den ständigen Mann hier abgelöst; ich wollte Sie unbedingt sehen. Einen Gruß von Kotikow, vom General und von Slatokrylez soll ich bestellen. Sagen Sie zuerst, was man mit Ihnen macht, wie es Ihnen geht, was man von Ihnen will. Sie können mir ja beim Ausziehen erzählen.«
Mostowskoi berichtete von dem nächtlichen Verhör.
Ossipow schaute ihn mit seinen hervorstehenden dunklen Augen an und sagte: »Die wollen Sie zum Reden bringen, die Esel.«
»Wenn ich nur wüsste, warum?«
»Vielleicht interessieren sie sich für irgendwelche historischen Dinge, für Charakteristiken der Parteigründer, der Parteiführer. Vielleicht geht es ihnen um irgendwelche Deklarationen, Aufrufe oder Befehle.«
»Von mir kriegen sie nichts«, sagte Mostowskoi.
»Sie werden aber nicht lockerlassen, Genosse Mostowskoi.«
»Trotzdem, von mir erfahren sie nichts«, wiederholte Mostowskoi und fragte: »Erzählen Sie mal, wie weit Sie sind.«
Ossipow flüsterte: »Es läuft besser als erwartet. Das Wichtigste: Wir haben Verbindung mit den Fabrikarbeitern aufnehmen können und schon die ersten Waffen erhalten – MPs und Granaten. Die Leute bringen die Einzelteile, und wir bauen sie nachts zusammen. Natürlich bis jetzt nur eine ganz geringe Stückzahl.«
»Das hat Jerschow eingefädelt, prima, prima«, sagte Mostowskoi. Als er sein Hemd auszog und seine Brust und Arme betrachtete, wurde er wieder an sein Alter erinnert und schüttelte betrübt den Kopf.
Ossipow sagte: »Als vorgesetzten Parteigenossen muss ich Sie informieren, dass Jerschow nicht mehr in unserem Lager ist.«
»Was?«
»Man hat ihn mit einem Transport nach Buchenwald gebracht.«
»Nein, das ist nicht wahr!«, schrie Mostowskoi auf. »So ein Prachtkerl.«
»Er bleibt auch in Buchenwald ein Prachtkerl.«
»Wie konnte denn das passieren?«
Ossipow sagte finster: »In der Führung hat sich sofort eine Spaltung gezeigt. Jerschow war vielen auf Anhieb sympathisch, das hat ihm den Kopf verdreht. Er wollte sich einfach nicht mehr der Zentrale unterordnen. Er ist ein vager, undurchsichtiger Typ. Mit jedem Schritt wurde die Lage verworrener. Das erste Gebot im Untergrund ist schließlich eiserne Disziplin. Wir hatten plötzlich zwei Zentralen – eine außerhalb und eine innerhalb der Partei. Wir besprachen die Sache und kamen zu einem Entschluss: Ein tschechischer Genosse, der in der Schreibstube arbeitet, hat Jerschows Karte zu der Gruppe getan, die für Buchenwald ausgesucht worden war, und so kam er automatisch auf die Liste.«
»Nichts einfacher als das«, sagte Mostowskoi.
»So lautete der einstimmige Beschluss der Kommunisten«, sagte Ossipow.
Er stand vor Mostowskoi in seiner erbärmlichen Kleidung, den Lumpen in der Hand, streng und unerbittlich, vollkommen überzeugt von der Richtigkeit seiner Haltung und von seinem furchtbaren übermenschlichen Recht, die Sache, der er diente, über das Schicksal von Menschen zu stellen.
Vor ihm saß der nackte, ausgezehrte alte Mann, einer der Gründer der großen Partei, mit hochgezogenen, knochigen Schultern und tiefgebeugtem Haupt und schwieg.
Wieder erstand Liss’ nächtliches Büro vor Mostowskois Augen. Wieder packte ihn die Angst, Liss habe nicht gelogen, habe ganz einfach ohne jegliche Hintergedanken mit ihm
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