Leben und Schicksal
Krymow, überlegte genau, wo alles hingehörte – Decke, wattierte Jacke, Plane. Krymow ging durch den Schacht an die frische Luft hinaus, stand eine Weile im Dunkeln und schaute auf das leise wogende Feuer. Dann stieg er wieder hinunter, wo Spiridonow sich noch immer mit seinem Bett beschäftigte.
Als Krymow die Stiefel abgestreift und sich hingelegt hatte, fragte Spiridonow: »Ist’s bequem so?«
Er strich Krymow über den Kopf, lächelte selig betrunken.
Das über ihnen lodernde Feuer erinnerte Krymow an die Feuer, die in jener Januarnacht des Jahres 1924 auf dem Ochotny Rjad brannten, als man Lenin zu Grabe trug.
Alle, die in dem unterirdischen Notquartier übernachteten, waren offenbar bereits eingeschlafen; die Dunkelheit war undurchdringlich.
Krymow lag mit offenen Augen, ohne die Finsternis wahrzunehmen, er war ganz in Gedanken und Erinnerungen verloren.
Starker Frost hatte damals geherrscht … Ein dunkler Winterhimmel über den Kuppeln des Strastnoi-Klosters, Hunderte von Menschen in Pelzmützen mit Ohrenklappen, Budjonny-Helmmützen, Soldatenmänteln und Pelzjacken. Plötzlich war der Platz vor dem Kloster weiß gewesen von Tausenden von Flugblättern – die Regierungserklärung …
Der Leichnam Lenins war auf einem Bauernschlitten von Gorki zur Bahnstation gebracht worden: Die Kufen knirschten, die Pferde schnaubten. Hinter dem Sarg ging die Krupskaja mit einem runden Pelzhut mit grauem Tuchschleier, Lenins Schwestern, Anna und Maria, und Freunde und Bauern aus dem Dorf Gorki. So geleitete man sonst brave, bessere Werktätige, Landärzte oder Agronomen zur ewigen Ruhe.
In Gorki war es still … Die Kacheln der holländischen Öfen glänzten; neben dem mit einem weißen Tuch bedeckten Bett stand ein Schränkchen, darauf Fläschchen mit angehefteten Einnahmevorschriften; es roch nach Medikamenten. In das leere Zimmer trat eine ältere Frau im Arztkittel. Gewohnheitsmäßig ging sie auf Zehenspitzen. Als sie an dem Bett vorbeikam, nahm sie eine Schnur, an der ein Stück Zeitungspapier befestigt war, vom Stuhl, und die junge Katze, die im Lehnstuhl schlief, hob beim Rascheln ihres Spielzeugs rasch den Kopf, sah zu dem leeren Bett hinüber und rollte sich gähnend wieder zusammen.
Die Verwandten und Freunde, die den Sarg geleiteten, gedachten des Verstorbenen. Die Schwestern erinnerten an den blonden Jungen mit dem schwierigen Charakter, der manchmal spöttisch und bis zur Grausamkeit unerbittlich sein konnte …
Trotzdem war er ein lieber Junge gewesen, der die Mutter und die Geschwister liebte.
Die Witwe erinnerte sich, wie ihre Wirtin in Zürich ihrem Mann zugeschaut hatte, der, auf dem Boden kauernd, mit ihrer kleinen Enkelin Tilly sprach, und wie sie in ihrem Schweizerdeutsch, das Wolodja zum Lachen brachte, gesagt hatte: »Sie müssten Kinder haben.«
Da hatte er ihr einen raschen, verschmitzten Blick zugeworfen.
Die Arbeiter von »Dinamo« waren nach Gorki gekommen; Wolodja hatte ihnen entgegengehen und mit ihnen sprechen wollen, war stattdessen in Weinen ausgebrochen … Die Arbeiter hatten um ihn herumgestanden und ebenfalls geweint, als sie seine Tränen sahen … Und dann dieser Blick vor dem Ende, angstvoll, kläglich, wie ein Kind seine Mutter anschaut …
In der Ferne tauchten die Bahnhofsgebäude auf; aus dem Schnee ragte schwarz die Lokomotive mit dem hohen Schornstein heraus.
Die politischen Freunde des großen Lenin, die mit bereiften Bärten hinter dem Schlitten hergingen – Rykow, Kamenjew, Bucharin –, blickten zerstreut auf den pockennarbigen Mann mit bräunlichem Teint im langen Mantel und weichen Schaftstiefeln. Gewöhnlich belächelten sie seine Kaukasier-Uniform. Ach, wenn er doch taktisch etwas geschickter wäre, dieser Stalin; er hätte nicht nach Gorki kommen dürfen, wo sich die engsten Verwandten und Freunde des großen Lenin versammelt hatten. Sie wussten nicht, dass gerade er der Nachfolger Lenins werden würde, dass er sie alle, auch die Allernächsten, an die Wand drängen und sogar die Witwe aus dem Lenin’schen Erbe vertreiben würde.
Nicht sie, nicht Bucharin, Rykow, Sinowjew waren die Treuhänder der Lenin’schen Wahrheit, und auch nicht Trotzki. Sie alle waren auf dem falschen Weg. Keiner von ihnen würde die Sache Lenins weiterführen. Doch auch Lenin wusste und begriff bis zu seiner letzten Stunde nicht, dass seine Sache die Sache Stalins werden würde.
Fast zwei Jahrzehnte waren seit diesem Tag vergangen, als sie auf knirschenden Schlittenkufen
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