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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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den Leichnam des Mannes wegbrachten, der das Schicksal Russlands, Europas, Asiens und der ganzen Menschheit entscheidend mitbestimmt hatte.
    Krymows Gedanken kreisten hartnäckig um die damalige Zeit, Er erinnerte sich an die frostkalten Januartage des Jahres 1924, an das Prasseln der nächtlichen Feuer, die eisüberzogenen Wände des Kreml, die hunderttausendköpfige weinende Menge, das herzzerreißende Heulen der Fabriksirenen, die kräftige Stimme Jewdokimows, als er von seinem Holzpodest herab den Aufruf an die arbeitenden Menschen verlas, an das dichtgedrängte Häuflein Menschen, das den Sarg in das hölzerne, eilig zusammengezimmerte Mausoleum trug.
    Krymow war die mit Teppichen ausgelegten Stufen des Palais der Gewerkschaften hinaufgestiegen, vorbei an den mit schwarzen und roten Tüchern verhüllten Spiegeln. Die nach Tannen duftende, warme Luft war erfüllt von Trauermusik. Beim Betreten des Saals hatte er die gesenkten Köpfe derer erblickt, die er sonst auf der Tribüne, im Smolny und auf dem Alten Platz zu sehen gewohnt war. Die gleichen gesenkten Häupter hatte er am gleichen Ort im Jahre 1937 wiedergesehen; und wahrscheinlich dachten die Angeklagten, während sie der unmenschlichen Stimme Wyschinskis lauschten, daran, wie sie einst hinter dem Schlitten hergegangen waren und am Grab Lenins gestanden hatten, die Trauermusik in den Ohren.
    Warum musste er ausgerechnet hier im »Stalgres«, am Jahrestag der Revolution, an jene Januartage denken? Dutzende von Menschen, die mit Lenin zusammen die bolschewistische Partei gegründet hatten, waren als Provokateure, bezahlte Agenten ausländischer Geheimdienste und Diversanten entlarvt worden, und nur ein einziger Mann, der nie eine zentrale Stellung in der Partei eingenommen hatte und auch kein bemerkenswerter Theoretiker war, hatte sich durchgesetzt als Retter der Partei, als Träger der Wahrheit. Warum bekannten sich alle dazu?
    Darüber dachte man besser nicht nach, aber in dieser Nacht musste Krymow einfach darüber nachdenken. Warum bekennen sich alle dazu? Und warum schweige ich? Ich schweige doch, dachte Krymow, bringe es nicht fertig zu sagen: »Ich bezweifle, dass Bucharin ein Diversant war, ein Mörder und Provokateur.«
    Bei der Abstimmung habe doch auch ich die Hand gehoben, und dann habe ich unterschrieben und eine Rede gehalten und einen Aufsatz ausgearbeitet. Dabei schien mir mein Eifer ganz echt. Wo waren denn da meine Zweifel? Wie ist denn so etwas möglich? Bin ich denn ein Mensch mit zweierlei Bewusstsein? Oder sind da zwei verschiedene Menschen mit einem jeweils entgegengesetzten Bewusstsein? Wie soll ich mir das erklären? Aber so geht es ja nicht nur mir, sondern auch vielen anderen immer und überall.
    Grekow hatte das ausgesprochen, was viele Menschen in ihrem Inneren mit sich herumtrugen, was im Geheimen auch Krymow beunruhigte, interessierte und manchmal sogar anzog. Kaum jedoch wurde es ausgesprochen, ging Krymow in Abwehrstellung. So war es ihm auch mit Grekow gegangen. Er hatte nur noch den einen Wunsch gehabt, diesen Grekow in die Knie zu zwingen, ihn fertigzumachen. Notfalls hätte er nicht gezögert, ihn zu erschießen.
    Da hatte nun so ein Prjachin im Namen des Staates im trockenen Kanzleistil von prozentualer Planerfüllung, Lieferungen und Verpflichtungen gesprochen. Solche offiziellen, seelenlosen Reden und die offiziellen, seelenlosen Menschen, die diese Reden hielten, waren Krymow von jeher zuwider gewesen, doch mit ebendiesen Menschen arbeitete er Hand in Hand; sie waren seine Vorgesetzten. Die Sache Lenins und Stalins war in diesen Menschen verkörpert, in diesem Staat, für dessen Ruhm und Wohl Krymow jederzeit bereit war, sein Leben zu geben.
    Der alte Bolschewik Mostowskoi fiel ihm ein. Auch der war nie zur Verteidigung anderer aufgestanden, und wenn er zehnmal von ihrer revolutionären Gesinnung überzeugt war. Auch der hatte geschwiegen. Warum?
    Und der Student der Zeitungswissenschaften, Koloskow, den Krymow einst unterrichtet hatte, ein netter, integrer junger Mann. Er kam vom Lande und hatte Krymow von der Kollektivierung erzählt, von den Schweinehunden, die einfache Leute auf die Listen der Kulaken setzten, weil sie ein Auge auf deren Häuser oder Gärten geworfen hatten, oder auch einfach, weil sie ihre persönlichen Feinde waren. Er hatte vom Hunger auf dem Land berichtet, davon, wie man mit unerbittlicher Härte den Bauern auch das allerletzte Korn abgenommen hatte … Beim Bericht über einen wunderbaren

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