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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Verbandreste, einen weggeworfenen, zerrissenen Gummiüberschuh, ein verlorenes Kinderspielzeug vom Asphalt, schließen donnernd die Türen der Güterwagen. Eine eiserne Welle erschüttert die Waggons, der leere Zug setzt sich in Bewegung; er fährt zur Desinfektion.
    Das Kommando kehrt nach beendeter Arbeit durch einen Nebeneingang ins Lager zurück. Die Transporte aus dem Osten sind am meisten gefürchtet; bei ihnen gibt es immer die meisten Toten und Kranken; in den Waggons wimmelt es von Ungeziefer und stinkt es unerträglich. Bei diesen Transporten findet man auch nie ein Fläschchen Parfüm, ein Päckchen Kakao oder eine Dose Kondensmilch wie bei den ungarischen, holländischen oder belgischen Transporten.
    46
    Vor den Reisenden tat sich eine große Stadt auf, deren westliche Außenbezirke im Nebel versanken. Der dunkle Rauch der fernen Fabrikschlote vermischte sich mit dem Nebel, und das schachbrettartige Barackennetz lag unter einem Dunstschleier – merkwürdig wirkte diese Verbindung von Nebel und geometrischer Strenge der Straßenanlage.
    Im Nordosten stieg schwarz-roter Feuerschein in die Luft und brachte den klammen Herbsthimmel zum Erglühen … Hin und wieder riss sich aus dem roten Meer eine einzelne schmutzige Flamme los.
    Die Reisenden kamen auf einen großen Platz. In seiner Mitte standen auf einem Holzpodest, wie man es bei Volksfesten aufbaut, einige Dutzend Menschen – das Orchester. Die Menschen unterschieden sich in ihrem Äußeren ebenso stark voneinander wie die Instrumente, die sie spielten. Einige von ihnen sahen sich nach der näher kommenden Kolonne um. Da sagte ein grauhaariger Mann in hellem Mantel etwas, und die Leute griffen zu den Instrumenten. Plötzlich erklang zaghaft der Schrei eines Vogels, und die Luft, zerrissen vom Stacheldraht und dem Heulen der Sirenen, stinkend nach Unrat und verbranntem Fett, füllte sich mit Musik. Es war wie ein heftiger, warmer Sommerregen, der, von der Sonne entflammt, funkelnd auf die Erde aufschlägt.
    Menschen in Lagern, Menschen in Gefängnissen, solche, die aus Gefängnissen freigekommen sind, und solche, die in den Tod gehen, sie alle wissen um die erschütternde Kraft der Musik.
    Niemand fühlt Musik so wie der, der Lager und Gefängnis erlebt hat, oder der, der in den Tod geht.
    Die Musik berührt das Herz des Todgeweihten und erfüllt es – nicht mit Gedanken und Hoffnungen, sondern allein mit dem unaussprechlichen Wunder des Lebens. Ein Schluchzen ging durch die Kolonne. Alles hatte sich verwandelt, war zu einer Einheit verschmolzen – das Zuhause, die Welt, die Kindheit, die Fahrt, das Rattern der Räder, der Durst, die Angst und diese Stadt im Nebel, diese trübe Morgenröte, alles war plötzlich eins, nicht in der Erinnerung, nicht als Bild, sondern in dem dumpfen, heißen, quälenden Gefühl des zurückliegenden Lebens. Hier im Feuerschein der Öfen auf dem Lagerplatz spürten die Menschen, dass Leben mehr ist als Glück, es ist auch Schmerz. Freiheit ist nicht nur gut; sie ist auch schwierig, manchmal sogar schmerzlich – sie ist das Leben.
    Die Musik vermochte die letzte Erschütterung der Seele auszudrücken, die in ihrer blinden Tiefe alle durchlebten Gefühle vereinigte – freudige wie schmerzliche – und sie mit diesem nebligen Morgen und der Röte am Himmel über den Köpfen der Menschen verband. Oder war es umgekehrt? War die Musik vielleicht nur der Schlüssel zu den Gefühlen des Menschen und öffnete in diesem furchtbaren Augenblick sein Innerstes, sodass die Gefühle es waren und nicht die Musik, die ihn durchfluteten und erfüllten?
    Schon mancher alte Mann ist durch die Melodie eines Kinderliedes zu Tränen gerührt worden. Doch er weint nicht über das Lied; es ist nur der Schlüssel zu dem, was seine Seele wiedergefunden hat.
    Während die Kolonne langsam einen Halbkreis auf dem Platz bildete, fuhr ein cremefarbenes Auto aus dem Lagertor. Ein SS-Offizier mit Brille und pelzbesetztem Mantel stieg aus und machte eine ungeduldige Handbewegung. Der Dirigent ließ sofort mit einer verzweifelten Bewegung die Arme sinken, und die Musik brach ab.
    Es ertönte das so oft gehörte: »Halt!«
    Der Offizier schritt die Reihen ab. Er deutete mit dem Finger, und der Begleitposten rief die so Bezeichneten heraus. Der Offizier betrachtete die Ausgemusterten gleichgültig, und der Begleitposten fragte sie leise, um ihn nicht in seinen Gedanken zu stören: »Alter? Beruf?«
    Dreißig Leute wurden ausgewählt.
    Dann hieß es:

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