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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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nationalsozialistischen Partei Deutschlands, wirkt immer und überall auch sein eigener freier Wille mit. Das Schicksal führt den Menschen, doch der Mensch folgt ihm, weil er es will; er ist frei, nicht zu wollen. Das Schicksal führt den Menschen; er wird zum Instrument zerstörerischer Kräfte, doch er verliert dabei nichts, sondern gewinnt etwas, und das weiß und will er – das unheilvolle Schicksal und der Mensch haben verschiedene Ziele, aber den gleichen Weg.
    Kein sündloser, gnädiger himmlischer Richter, kein weiser oberster Richter im Staat, dem das Wohl des Staates und der Gesellschaft am Herzen liegt, kein Heiliger und kein Gerechter, sondern der jämmerliche, vom Faschismus bedrängte, schmutzige, sündige Mensch, der die fürchterliche Macht des totalitären Staates am eigenen Leibe verspürt hat, der selbst gestrauchelt und gefallen ist aus Angst, wird das Urteil sprechen, und es wird lauten: »Es gibt in der schrecklichen Welt Schuldige! Ich bekenne mich schuldig.«
    45
    Der letzte Tag der Reise ist gekommen. Die Waggons quietschen, die Bremsen knirschen; es wird still. Dann werden die Riegel donnernd zurückgeschoben. Das Kommando ertönt: »Alles raus!«
    Die Leute ergießen sich auf den regennassen Bahnsteig. Wie fremd scheinen die bekannten Gesichter nun im Tageslicht.
    Mäntel und Kopftücher haben sich weniger verändert als die Menschen; Jacken und Kleider erinnern an das Haus, in dem man sie angezogen, an die Spiegel, vor denen man sie anprobiert hat.
    Die Ausgestiegenen drängen sich in Gruppen zusammen. Im herdenhaft engen Beieinander, im vertrauten Geruch, der gewohnten Wärme, den bekannten, von Kummer gezeichneten Gesichtern und Augen, in der dichtgedrängten Menschenmasse, die sich aus zweiundvierzig Waggons ergießt, suchen sie Zuflucht und Geborgenheit.
    Mit klirrenden Stiefeln schreiten zwei SS-Soldaten in langen Mänteln gemessen über den Asphalt. Hochmütig und in Gedanken versunken, haben sie keinen Blick für die jungen Juden, die eine tote alte Frau heraustragen, der ihr weißes Haar wirr ins weiße Gesicht hängt. Sie sehen nicht das schwarzgelockte, wie ein Pudel wirkende Männlein, das sich auf allen vieren über eine Pfütze beugt und aus der hohlen Hand schmutziges Wasser trinkt, auch nicht die Bucklige, die den Rock hebt, um eine abgerissene Litze ihrer Unterhose zu befestigen.
    Von Zeit zu Zeit wechseln die SS-Leute einen Blick, sprechen ein paar Worte miteinander. Sie gehen über den Asphalt wie die Sonne über den Himmel. Die Sonne folgt ja weder dem Wind noch den Wolken, noch dem Sturm über dem Meer oder dem Rascheln des Laubes, doch in ihrer stetigen Bewegung weiß sie, dass alles auf Erden nur durch sie geschieht.
    Männer in blauen Overalls mit großen Schirmmützen und weißen Armbinden schreien und treiben die Ankömmlinge in einem Kauderwelsch aus russischen, deutschen, jüdischen, polnischen und ukrainischen Worten zur Eile an.
    Rasch und geschickt ordnen sie die Menge auf dem Bahnsteig, sondern die nicht Gehfähigen aus, zwingen die Stärkeren, die Halbtoten auf Kastenwagen zu verladen, koordinieren die Bewegung der Kolonne, motivieren die Leute zum Gehen und verleihen ihrer Bewegung Richtung und Ziel.
    Die Kolonne wird in Sechserreihen gegliedert, und durch die Reihen läuft die frohe Kunde: »Ins Bad, zuerst ins Bad!«
    Es scheint, als könne sich der liebe Gott nichts Schöneres ausgedacht haben.
    »Also, Juden, gleich gehen wir«, schreit ein Mann mit Mütze, der Leiter des Kommandos, das den Transport entladen hat, und lässt seinen Blick prüfend über die Menge gleiten.
    Männer und Frauen ergreifen ihre Bündel; die Kinder klammern sich an die Rockschöße der Mütter und die Säume der väterlichen Jacken.
    »Ins Bad … Ins Bad!« Diese Worte faszinieren, hypnotisieren die Menschen.
    Der große Mann mit Mütze wirkt irgendwie vertraut, sympathisch; er scheint ihrer Welt des Unglücks anzugehören, scheint ihr jedenfalls näherzustehen als der Welt der grauen Mäntel und Stahlhelme. Eine Alte streicht behutsam und ehrerbietig über seinen Ärmel und fragt: »Ihr sind a Jid, a Litwek, mein Kind?«
    »Ja, ja, Mamenka, ich bin a Jid … prentko, prentko, panowje!« Und plötzlich schreit er gellend und etwas heiser das Kommando: »Kolonne marsch! Schagom marsch!« In einem Atemzug erteilt er damit den Befehl, der in den beiden einander bekämpfenden Armeen tägliche Routine ist.
    Der Bahnsteig leert sich; die Männer in den Overalls fegen Fetzen,

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