Leben und Schicksal
»Ärzte, Chirurgen!«
Keiner rührte sich.
»Ärzte, Chirurgen, raustreten!«
Wieder nichts.
Der Offizier ging zum Wagen; sein Interesse an den tausend Menschen, die auf dem Platz angetreten waren, war erloschen.
Die Ausgemusterten wurden in Fünferreihen aufgestellt, mit dem Blick auf die Schrift über dem Lagertor: ARBEIT MACHT FREI!
Aus den Reihen ertönte der Schrei eines Kindes; auch Frauen schrien gellend und böse. Die Ausgesonderten standen schweigend mit gesenktem Kopf.
Wie soll man das Gefühl eines Menschen beschreiben, der gezwungen wird, die Hand seiner Frau loszulassen, wie jenen letzten, raschen Blick auf ihr geliebtes Gesicht? Wie soll man leben, wenn man sich ewig daran erinnern wird, dass man beim stummen Abschied einen Bruchteil der Sekunde geblinzelt hat, um die primitive Freude über die Rettung des eigenen Lebens zu verbergen?
Wie soll man vergessen, dass die Frau einem ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt hat, in dem der Ehering, ein paar Stückchen Zucker und ein Zwieback waren? Kann man denn weiterleben, wenn man sieht, wie ein neuer Feuerstoß den Himmel rötet? Da, da verbrennen die Hände, die man geküsst, die Augen, die einen entzückt haben, die Haare, deren Geruch man im Dunkeln erkannt hat, da die Kinder, die Mutter. Kann man sich denn unter diesen Umständen in der Baracke einen Platz am Ofen ausbitten, seinen Napf unter die Schöpfkelle halten, aus der ein Liter grauer Brühe fließt, oder die abgerissene Schuhsohle wieder festmachen? Kann man – in den Ohren den Schrei der Kinder, das Schluchzen der Mutter – Steine klopfen, atmen, Wasser trinken?
Die zum Weiterleben Verurteilten wurden zum Lagertor getrieben. Schreie verfolgten sie, sie schrien selbst, zerrissen sich das Hemd auf der Brust, während ihnen das neue Leben entgegenkam: elektrisch geladene Zäune, betonierte Wachttürme mit Maschinengewehrposten, Baracken, Mädchen und Frauen mit weißen Gesichtern jenseits des Zauns, Männer in Arbeitskolonnen mit roten, gelben und blauen Flicken auf der Brust …
Wieder setzte das Orchester ein. Die für die Lagerarbeit Ausersehenen betraten die Stadt im Sumpf. Das dunkle Wasser bahnte sich seinen trüben, stummen Weg zwischen glitschigen Betonplatten und schweren Steinbrocken. Dieses schwarz-rote Wasser stank nach Fäulnis; auf seiner Oberfläche schwammen grüner Chemieschaum und schmutzige Stofffetzen mit blutigen Fleischklumpen daran, die aus den Operationssälen des Lagers hinausgeworfen worden waren. Das Wasser würde unter die Erde des Lagers versickern, wieder auftauchen und aufs Neue verschwinden. Doch es ginge seinen Weg, denn auch in ihm lebte die Bewegung des Meeres, lebte der Morgentau – in diesem trüben Lagerwasser.
Die Todgeweihten aber gingen ihren letzten Gang.
47
Sofja Ossipowna schritt schwer und gleichmäßig dahin. Der Junge hielt ihre Hand, seine andere Hand betastete die Streichholzschachtel in der Manteltasche, in der auf schmutziger Watte eine dunkelbraune verpuppte Larve lag, die gerade erst im Zug aus dem Kokon geschlüpft war. Neben ihnen ging murmelnd der Schlosser Lasar Jankelewitsch. Seine Frau Debora Samuilowna trug ihr Kind auf dem Arm. Hinter ihr murmelte Rebekka Buchman: »O mein Gott, o mein Gott …« Die Fünfte in der Reihe war die Bibliothekarin Mussja Borissowna. Sie war ordentlich frisiert, und ihr kleiner Kragen wirkte sauber. Sie hatte unterwegs mehrmals für ein kleines Kännchen warmes Wasser auf ihre Brotration verzichtet. Diese Mussja Borissowna trug niemandem etwas nach, im Waggon hielt man sie für eine Heilige; die alten Mütterchen, die sich auf Menschen verstanden, küssten ihr das Kleid. In der Reihe vor ihnen gingen nur vier Leute. Bei der Selektion hatte der Offizier aus dieser Reihe gleich zwei Leute herausgerufen – Vater und Sohn Slepoi, sie hatten auf die Frage nach dem Beruf beide »Zahnarzt« angegeben, und der Offizier hatte genickt: So hatten sich die Slepois das Leben gerettet. Drei von denen, die in der Reihe übrig geblieben waren, schlenkerten beim Gehen mit den Armen, wussten nicht, wohin mit ihren Händen. Der Vierte marschierte mit hochgeschlagenem Jackettkragen, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf zurückgeworfen, nicht im Gleichschritt mit den anderen. Etwa vier bis fünf Reihen weiter vorn ragte ein riesiger alter Mann in einer Rotarmistenpelzmütze aus der Menge heraus.
Direkt hinter Sofja Ossipowna ging Mussja Winokur, die im Güterwagen vierzehn Jahre alt geworden
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