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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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er schuldiger gewesen wäre als er selbst, sondern dadurch, dass ihn sein scheußlicher, angeborener Schwachsinn entschuldigte. Er, Chmelkow, war kein Idiot, er war ein Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.
    Er ahnte dunkel, dass es für denjenigen, der unter dem Faschismus Mensch bleiben wollte, eine leichtere Wahl gab als das gerettete Leben – den Tod.
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    Der Chef des Objekts und des Sonderkommandos, Sturmbannführer Kaltluft, hatte erreicht, dass die zentrale Fahrdienstleitung jeden Abend eine Aufstellung der für den nächsten Tag erwarteten Transporte herausgab. Er informierte dann seine Leute über ihre Aufgaben, über die Gesamtzahl der Waggons und die Anzahl der eintreffenden Menschen; je nachdem, aus welchem Land der Transport kam, wurden ihnen bestimmte Gefangenenhilfstrupps zugeteilt – Friseure, Begleitposten und Helfer beim Entladen.
    Kaltluft hasste Schlamperei und Bummelei. Er trank nicht und ärgerte sich, wenn seine Untergebenen nicht nüchtern waren. Nur einmal hatte man ihn fröhlich und aufgeräumt erlebt: Bei der Abfahrt in den Osterurlaub hatte er, bereits im Wagen sitzend, Sturmführer Hahn zu sich gerufen und ihm Fotos gezeigt von seiner Tochter, einem Mädchen mit breitem Gesicht und großen Augen, das seinem Vater glich.
    Kaltluft arbeitete gern, vergeudete ungern Zeit. Nach dem Abendessen ging er nie in die Klubräume, er spielte nicht Karten und schaute keine Filme an. Weihnachten hatte man für das Sonderkommando einen Christbaum aufgestellt, ein Laienchor war aufgetreten, und zum Abendessen hatte es für je zwei Leute eine Flasche französischen Cognac gegeben. Kaltluft war für eine halbe Stunde in den Klub gekommen, und alle hatten an seinen Fingern frische Tintenspuren gesehen – er arbeitete also sogar am Heiligen Abend.
    Einst lebte er auf dem Bauernhof seiner Eltern, und alles hatte dafür gesprochen, dass er sein Leben auf diesem Hof beschließen würde, er liebte die Ruhe auf dem Land und scheute keine Arbeit. Er hatte davon geträumt, den väterlichen Betrieb zu vergrößern, doch ganz gleich, wie hoch seine Einnahmen aus der Schweinezucht und dem Handel mit Steckrüben und Weizen mit der Zeit sein würden, nie hatte er daran gedacht, sein Leben einmal woanders als in dem gemütlichen, stillen väterlichen Haus zu verbringen. Das Leben aber hatte es anders gewollt. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war er an die Front gekommen und hatte den Weg beschritten, der ihm vom Schicksal bestimmt war: Aus der ländlichen Umgebung geriet er unter die Soldaten, sein Weg führte ihn aus dem Schützengraben zum Stabsschutz, aus der Schreibstube in die Adjutantur, aus dem Zentralapparat des Reichssicherheitshauptamts zur Lagerverwaltung und schließlich auf den Chefposten des Sonderkommandos in einem Vernichtungslager.
    Hätte sich Kaltluft vor dem himmlischen Gericht verantworten müssen, so hätte er dem Richter wahrheitsgemäß erzählt, das Schicksal habe ihm den Weg des Henkers gewiesen, der fünfhundertneunzigtausend Menschen getötet hatte. Was hätte er gegen die vereinten Kräfte eines Weltkriegs, einer gewaltigen nationalen Bewegung, einer unerbittlichen Partei und des staatlichen Zwangs tun sollen? Wer hätte da seinen eigenen Weg gehen können? Er war ein Mensch, hatte friedlich im Hause seines Vaters gelebt. Nicht er war gegangen, man hatte ihn gestoßen. Nicht er hatte es so gewollt, wie den Däumling hatte ihn das Schicksal an der Hand geführt. Und genau so oder ähnlich hätten sich vor Gott auch diejenigen verteidigt, die Kaltluft zur Arbeit schickte, und diejenigen, von denen Kaltluft zur Arbeit geschickt wurde.
    Kaltluft brauchte seine Seele nicht vor dem himmlischen Gericht zu rechtfertigen, und daher brauchte Gott ihm auch nicht zu bestätigen, dass es auf der Welt keine Schuldigen gab …
    Es gibt das himmlische Gericht, das staatliche und das gesellschaftliche; aber höher als diese steht das Gericht des Sünders über sich selbst. Der Sünder hat die Machtfülle des totalitären Staats ermessen, sie ist unermesslich groß. Mit Propaganda, Hunger, Einsamkeit, Straflager, Tod und Ächtung fesselt diese furchtbare Kraft den Willen des Menschen. Doch in jedem Schritt, den der Mensch tut, bedrängt und bedroht von Armut, Hunger, Straflager und Tod, manifestiert sich zugleich auch sein freier Wille. An der Entwicklung des Chefs eines Sonderkommandos vom Bauern zum Soldaten, vom parteilosen Durchschnittsbürger zum bekennenden Mitglied der

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