Leben und Schicksal
ganze riesige Himmelszelt und schaute herab – der kleine David ging mit seinen kleinen Füßen auf ihn zu. Um ihn herum war nur Musik, hinter der man sich nicht verbergen, an der man sich nicht festhalten, an der man sich nicht den Schädel blutig schlagen konnte.
Die Puppe da – sie hatte keine Flügel, keine Beine, keine Fühler und keine Augen –, sie lag in der Schachtel, dumm und vertrauensvoll, und wartete …
Wer Jude ist, der hat von vornherein verspielt.
Er schluckte, hielt die Luft an … Wenn er könnte, würde er sich selbst erwürgen. Die Musik verstummte. Seine kleinen Füße und Dutzende anderer kleiner Füße beeilten sich, rannten … Er hatte keine Gedanken, konnte weder schreien noch weinen. Seine schweißnassen Finger umklammerten die Schachtel in der Tasche, doch er hatte das Insekt schon vergessen. Nur seine kleinen Füße gingen, gingen, stolperten, liefen …
Wenn das Entsetzen, das ihn gefangen hielt, noch einige Minuten länger gewährt hätte, er wäre mit zerrissenem Herzen gestürzt und liegen geblieben.
Als die Musik verstummte, wischte sich Sofja Ossipowna die Tränen aus den Augen und sagte ärgerlich: »So, sagte der Floh.«
Dann schaute sie in das Gesicht des Jungen und erschrak. Er war so angstverzerrt, dass es sogar hier unter all den ängstlichen Gesichtern auffiel.
»Was hast du? Was ist mit dir?«, schrie Sofja Ossipowna und zerrte heftig an seinem Arm. Er kam zu sich. »Was hast du? Was ist mit dir? Wir gehen doch nur zum Waschen, ins Bad.«
Als man die Chirurgen aufgerufen hatte, war sie stumm geblieben, hatte sich der verhassten Macht widersetzt.
Neben ihr ging die Frau des Schlossers, und der arme Junge mit dem großen Kopf auf ihrem Arm betrachtete alles ringsumher mit arglosem, neugierigem Blick. Diese Schlossersfrau hatte nachts im Waggon von einer anderen Frau eine Handvoll Zucker für ihr Kind gestohlen. Die Bestohlene war völlig entkräftet gewesen, ein alter Mann namens Lapidus, neben dem niemand sitzen wollte, weil er unentwegt unter sich urinierte, hatte sich ihrer angenommen.
Jetzt ging Debora, die Frau des Schlossers, in Gedanken versunken mit ihrem Kind auf dem Arm, und das Kind, das im Zug Tag und Nacht geschrien hatte, war jetzt still. Die traurigen, dunklen Augen der Frau überstrahlten die Hässlichkeit ihres schmutzigen Gesichts, ihrer blutleeren Lippen.
»Eine Madonna«, dachte Sofja Ossipowna.
Einmal, etwa zwei Jahre vor Kriegsausbruch, hatte sie gesehen, wie die Sonne, die hinter den Kiefern des Tienschan-Gebirges aufging, die weißen Schneeflächen beschien und der See im Halbdunkel wie aus blauem Stein gemeißelt dalag. Damals hatte sie geglaubt, dass jeder Mensch auf der Welt sie beneiden müsste, jetzt spürte sie dagegen in ihrem leidgeprüften fünfzigjährigen Herzen, dass sie alles geben würde, wenn sie irgendwo in einem noch so ärmlichen, dunklen Zimmer mit niedriger Decke von zwei Kinderarmen umfangen würde.
Der kleine David hatte in ihr eine besondere Zärtlichkeit geweckt, wie sie sie Kindern gegenüber nie empfunden hatte, obwohl sie Kinder mochte. Im Waggon hatte sie ihm stets einen Teil ihres Brotes abgegeben. Er hatte ihr im Halbdunkel sein Gesicht zugewandt, und sie hatte weinen, ihn an sich ziehen und küssen wollen, mit kleinen, raschen Küssen, wie sie Mütter ihren kleinen Kindern geben. Flüsternd, sodass er sie nicht hören konnte, hatte sie immer wieder gesagt: »Iss, mein Söhnchen, iss!«
Sie hatte wenig gesprochen mit dem Kleinen. Eine seltsame Scheu hatte sie gehindert, das in ihr aufkeimende Muttergefühl zu zeigen. Doch sie hatte bemerkt, dass der Kleine ihr stets unruhig nachschaute, wenn sie sich auf die andere Seite des Waggons hinüberkämpfte, und erst wieder ruhig wurde, sobald sie in seiner Nähe war.
Sie wollte sich nicht eingestehen, warum sie nicht geantwortet hatte, als die Ärzte und Chirurgen aufgerufen worden waren, warum sie in der Kolonne geblieben war und plötzlich ein Hochgefühl in sich verspürt hatte.
Die Kolonne ging an den Stacheldrahtzäunen entlang, an Betontürmen mit schwenkbaren Maschinengewehren, an Gräben und an Menschen, die nicht mehr wussten, was Freiheit ist. Es schien, als seien die Zäune, die Maschinengewehre nicht dazu da, die Lagerinsassen an der Flucht, sondern die Todgeweihten daran zu hindern, Zuflucht im Zwangsarbeitslager zu suchen.
Dann bog der Weg vom Lagerzaun ab und führte zu einigen niedrigen Gebäuden mit flachen Dächern. Von weitem sahen diese
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