Leben und Schicksal
war.
Der Tod! Er war einer von ihnen geworden, ein Kumpel, kam einfach zu ihnen auf die Höfe, in die Werkstatt; holte die Hausfrau auf dem Markt mitsamt ihren Kartoffeln, mischte sich in das Spiel der Kinder, schaute in die Werkstatt, wo die Damenschneider sich singend beeilten, den Pelzmantel der Frau des Gebietskommissars fertigzustellen, reihte sich in die Menschenschlange vor dem Bäckerladen ein und setzte sich zu der strümpfestopfenden Alten auf die Bank.
Der Tod besorgte sein tägliches Geschäft und die Menschen das ihre. Hin und wieder gestattete er seinen Opfern, die Zigarette zu Ende zu rauchen, den Bissen zu Ende zu kauen; hin und wieder schlug er ihnen freundschaftlich auf die Schulter und lachte jovial dazu.
Endlich schienen die Menschen ihn zu verstehen; er zeigte sich ihnen in seiner ganzen Alltäglichkeit, in seiner kindlichen Einfachheit … Es war sehr leicht, da hinüberzugehn, wie über ein Flüsschen, über das man ein paar Holzbretter gelegt hat, hinüber auf die Wiesenseite, über die der Rauch der Bauernhütten hinwegstrich – fünf, sechs Schritte, schon war man drüben! Was konnte daran schrecklich sein? Da ging ein Kälbchen mit klappernden Hufen über das Brückchen; ein paar Jungen überholten es auf nackten Sohlen …
Sofja Ossipowna vernahm die Musik. Sie hatte diese Musik zum ersten Mal als Kind gehört, dann als Studentin und als junge Ärztin – immer hatte sie für sie ganz deutlich eine Verheißung enthalten.
Die Musik hatte sie betrogen. Für Sofja Ossipowna gab es keine Zukunft mehr, nur das vergangene Leben.
Das Empfinden des Lebens, das nur ihr gehörte, nur von ihr gelebt war, verdrängte jetzt für einen Augenblick die Aktualität – den vor ihr liegenden Abgrund.
Ein eigenartiges Gefühl! Eigenartiger als alle, die sie kannte, und nicht zu beschreiben, nicht einmal den allernächsten Menschen; nicht einmal der Frau, der Mutter, dem Bruder, dem Sohn, dem Freund oder dem Vater lässt es sich mitteilen; es ist das Geheimnis der Seele, und die Seele kann es, auch wenn sie noch so gern möchte, nicht preisgeben. Der Mensch trägt dieses Gefühl seines Lebens mit sich fort, ohne es mit jemandem geteilt zu haben. Das Wunder des einzelnen, besonderen Menschen, in dessen Bewusstsein und Unterbewusstsein alles Gute und Böse, alles Lustige, Liebe, alles Schändliche, Traurige und Peinliche, alles Zärtliche, Scheue und Wundersame aufgespeichert ist, das er von der Kindheit bis ins Alter erlebt hat – es verschmilzt zu dem stummen, verborgenen einsamen Gefühl dieses einen Lebens.
Als die Musik einsetzte, wollte David das Schächtelchen aus der Tasche nehmen, es nur für eine Sekunde öffnen, damit die Puppe sich nicht erkältete, und ihr die Musiker zeigen. Doch nachdem er einige Schritte gegangen war, nahm er die Menschen auf dem Podium gar nicht mehr wahr; nur die Röte am Himmel und die Musik blieben. Die traurige, mächtige Melodie füllte sein Herz mit Sehnsucht nach der Mutter. Die Mutter, die nicht stark war und nicht gelassen, sondern sich schämte, dass ihr Mann sie verlassen hatte … Sie hatte David ein Hemd genäht, und die Wohnungsnachbarn hatten gelacht, weil David ein Hemd aus Kattun trug, mit Blümchen darauf und schief eingenähten Ärmeln. Sein einziger Schutz, seine einzige Hoffnung war die Mutter. Die ganze Zeit hatte er auf sie gehofft, auf sie vertraut, fest und blind. Aber vielleicht hatte die Musik bewirkt, dass er nicht mehr auf die Mutter hoffte. Er liebte sie, aber sie war ebenso hilflos und schwach wie diejenigen, die neben ihm gingen. Die Musik, einschläfernd und leise, erschien ihm wie die kleinen Wellen, die er im Fieberwahn gesehen hatte, als seine Temperatur so hoch angestiegen und er vom heißen Kopfkissen auf den warmen, feuchten Sand gekrochen war.
Das Orchester heulte auf – eine riesige ausgetrocknete Kehle stimmte ihre Klage an.
Die dunkle Wand, die aus dem Wasser aufgestiegen war, als er damals Angina hatte, hing nun über ihm und nahm den ganzen Himmel ein.
Alles, was seinem kleinen Herzen je Angst gemacht hatte, vereinigte sich, verschmolz – die Angst vor dem Bild, auf dem das Zicklein den Schatten des Wolfes zwischen den Baumstämmen nicht bemerkt, die blauäugigen Köpfe der geschlachteten Kälbchen auf dem Markt, die tote Großmutter, das erwürgte Kind von Rebekka Buchman, der erste nächtliche Albtraum, der ihn veranlasst hatte, verzweifelt zu schreien und nach der Mutter zu rufen.
Der Tod spannte sich über das
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