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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ausruhen. Was für eine ungeheure, monatelang entbehrte Wohltat – sich die von Schmutz und Schweiß verkrusteten Kleider, die halbverfaulten Socken, Strümpfe und Fußlappen vom Leib reißen zu dürfen. Die Haarschneiderinnen hatten ihre Arbeit beendet und waren gegangen, und die Menschen seufzten erleichtert auf. Die einen dösten vor sich hin; die anderen beobachteten die Läuse auf den Kleidern; die Dritten unterhielten sich leise. Irgendjemand sagte: »Schade, dass wir keine Karten haben. Wir könnten ein Spielchen machen.«
    Doch in diesen Minuten nahm der Chef des Sonderkommandos, eine Zigarre rauchend, den Telefonhörer ab; der Lagerverwalter lud die »Zyklon B«-Dosen mit den roten Marmelade-Etiketten auf den Motorwagen, und der Wachhabende des Sonderkommandos, der im Dienstraum saß, schaute auf die Wand – gleich musste die rote Signallampe aufleuchten.
    Plötzlich ertönte von verschiedenen Enden des Auskleideraums das Kommando: »Aufstehen!«
    Dort, wo die Bänke aufhörten, standen Deutsche in schwarzer Uniform. Die Menschen traten nun in einen breiten Gang. In die Decke versenkte, von dickem Milchglas geschützte ovale Lampen beleuchteten den Weg spärlich. Hier wurde die Tragkraft des sanft gewundenen Betongewölbes sichtbar, das den Menschenstrom in sich hineinsaugte. Es war still; nur das Tapsen nackter Füße war zu hören.
    Vor dem Krieg hatte Sofja Ossipowna einmal zu Jewgenia Nikolajewna Schaposchnikowa gesagt: »Wenn es einem Menschen bestimmt ist, von einem anderen Menschen getötet zu werden, dann wäre es doch interessant zu beobachten, wie sich die Lebenswege der beiden langsam aufeinander zubewegen. Zuerst sind sie vielleicht ganz weit voneinander entfernt – ich pflücke zum Beispiel im Pamir-Gebirge Alpenrosen, mache Aufnahmen mit meiner Kontax, während mein Tod in diesem Augenblick achttausend Werst von mir entfernt auf dem Heimweg von der Schule im Flüsschen Kaulbarsche fängt. Ich gehe ins Konzert, während er an diesem Tag auf dem Bahnhof eine Fahrkarte kauft, um zu seiner Schwiegermutter zu fahren, und dennoch werden wir uns eines Tages begegnen.« Jetzt fielen ihr diese seltsamen Worte wieder ein. Sie schaute zur Decke hinauf: Durch diese Betonmasse über ihrem Kopf würde sie kein Gewitter mehr hören, nie mehr den umgekippten Kübel des Großen Bären sehen. Sie ging mit nackten Füßen der Windung des Gangs entgegen, und der Gang glitt lautlos und einschmeichelnd auf sie zu; die Bewegung bedurfte keiner Anstrengung, sie ging wie von allein; es war wie ein Gleiten im Halbschlaf, als wäre alles um sie herum und in ihrem Innern mit Glyzerin bestrichen und bewegte sich träge von allein weiter.
    Der Eingang in die Kammer öffnete sich verzögert und ruckartig zugleich. Der Menschenstrom ergoss sich langsam hinein. Ein altes Ehepaar, das einen fünfzigjährigen gemeinsamen Lebensweg hinter sich hatte und beim Auskleiden getrennt worden war, ging nun wieder vereint; die Arbeiterfrau trug ihr inzwischen erwachtes Kind; Mutter und Sohn blickten über die Köpfe der Gehenden hinweg ins Leere, ihr Blick ging nicht in den Raum, sondern in die Zeit. Das Gesicht des Internisten huschte vorüber. Direkt neben sich gewahrte Sofja Ossipowna die Augen der lieben Mussja Borissowna und den schreckensstarren Blick Rebekka Buchmans. Da war Ljussja Sterntal – die Schönheit dieser jungen Augen, der leicht geblähten Nasenflügel, des Halses und der halb geöffneten Lippen war unangetastet, unantastbar. Neben ihr ging der alte Lapidus mit seinen zerknitterten blauen Lippen. Sofja Ossipowna drückte den Jungen wieder fest an sich. Nie zuvor war ihr Herz von solcher Zärtlichkeit für andere Menschen erfüllt gewesen.
    Der neben ihr gehenden Rebekka entrang sich ein Schrei des Entsetzens, der furchtbare Schrei eines Menschen, der zu Asche werden soll.
    Am Eingang zur Gaskammer stand ein Mann mit einem Stück Rohrleitung in der Hand. Er trug ein braunes Hemd mit Reißverschluss und kurzen Ärmeln. Beim Anblick seines verschwommenen, kindlich-debilen und zugleich verzückten Lächelns hatte Rebekka so entsetzlich aufgeschrien.
    Der Blick des Mannes glitten über Sofja Ossipownas Gesicht. Das ist er also, mein Henker. Endlich haben wir uns getroffen!
    Sie fühlte, dass sich ihre Finger um diesen widerwärtigen Hals im offenen Hemdkragen legen wollten, doch der lächelnde Mann holte rasch mit dem Stock aus. Durch Glockengeläut und knirschendes Glas hörte sie: »Keine Mätzchen, du räudige

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