Leben und Schicksal
besinnungsloser Wut auf den SS-Mann stürzen wollen? »Ein junger jüdischer Narr und sein alter russischer Jünger haben uns gelehrt, uns dem Bösen nicht mit Gewalt zu widersetzen. Zu ihrer Zeit gab’s aber auch keinen Faschismus«, dachte sie voll Bitterkeit. Ohne sich noch länger ihrer mütterlichen Gefühle zu schämen, beugte sie sich nun zu dem Jungen hinunter, nahm sein schmales Gesicht in ihre großen, verarbeiteten Hände, sodass es ihr schien, als halte sie seine warmen Augen in den Händen, und küsste ihn.
»Ja, mein Kleiner«, sagte sie, »jetzt haben wir es doch tatsächlich ins Bad geschafft.«
Im Halbdunkel des betonierten Auskleideraums schienen für einen Moment die Augen Alexandra Wladimirowna Schaposchnikowas aufzuleuchten. »Ob sie wohl noch lebt?« Sie hatten sich voneinander verabschiedet, und Sofja Ossipowna war gegangen und – angekommen. Auch Anja Strum war angekommen.
Die Frau eines Arbeiters wollte ihrem Mann den nackten kleinen Sohn zeigen. Aber der Mann war hinter der Trennwand, und so hielt sie den nur mit einer Windel bedeckten Sohn Sofja Ossipowna hin und sagte stolz: »Kaum ist er ausgezogen, weint er nicht mehr.«
Ein Mann, dessen Gesicht fast ganz von einem schwarzen Bart bedeckt war und der anstatt einer Unterhose zerrissene Schlafanzughosen trug, rief, mit seinen Augen und Goldzähnen blitzend, zu den Frauen herüber: »Manjetschka, hier wird ein Badeanzug angeboten. Sollen wir ihn kaufen?«
Mussja Borissowna, die mit der Hand ihre aus dem Hemdausschnitt hervorquellende Brust zu bedecken versuchte, lächelte über den Witz.
Sofja Ossipowna hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass dieser Humor der Verurteilten nicht seelischer Stärke entsprang; den Schwachen und Furchtsamen setzte die Angst nicht so zu, wenn sie über sie lachten.
Rebekka Buchman mit ihrem zerquälten, abgezehrten und doch immer noch schönen Gesicht wandte ihre großen, leidenschaftlichen Augen von den anderen ab und begann, ihre dicken schwarzen Zöpfe zu zerzausen, um darin ihre Ringe und Ohrringe zu verbergen.
Blinder, unerbittlicher Lebenswille beherrschte all ihr Tun. Der Faschismus hatte sie, so unglücklich und hilflos sie war, auf sein Niveau herabgezogen – nichts konnte sie in ihrem Bemühen aufhalten, ihr Leben zu retten. Jetzt, als sie ihren Schmuck versteckte, dachte sie nicht mehr daran, dass sie mit denselben Händen ihr Kind erwürgt hatte, aus Angst, es könne schreien und ihr Versteck auf dem Dachboden verraten.
Doch als sie eben aufatmen wollte, wie ein Tier, das endlich das rettende Dickicht erreicht hat, fiel ihr Blick auf eine Frau im Kittel, die gerade Mussja Borissowna die Zöpfe abschnitt. Daneben schor eine andere ein schwarzhaariges Mädchen; die seidig glänzenden Haare fielen lautlos herab. Der Betonboden war von Haaren bedeckt, und es sah aus, als badeten die Frauen ihre Füße in dunklem und hellem Wasser.
Die Frau im Kittel schob ohne Hast Rebekkas Hand zur Seite, mit der sie sich den Kopf hielt, und packte die Haare im Nacken. Die Enden der Schere stießen auf den im Haar versteckten Schmuck, und die Frau flüsterte, während sie ihre Arbeit fortsetzte und gleichzeitig geschickt die Ringe aus dem zerzausten Haar klaubte, in Rebekkas Ohr: »Sie bekommen alles wieder.« Und noch leiser fügte sie hinzu: »Ein Deutscher ist hier, ganz ruhig.« Das Gesicht der Frau im Kittel prägte sich Rebekka nicht ein; sie hatte keine Augen und keine Lippen, nur eine gelbliche Hand mit blauen Adern.
Auf der anderen Seite der Trennwand erschien wie ein kranker, trauriger Teufel ein grauhaariger Mann mit Brille, die schief auf seiner schiefen Nase saß. Suchend blickte er über die Bänke und fragte, jeden Buchstaben betonend wie einer, der gewöhnt ist, mit Schwerhörigen zu sprechen: »Mama, Mama, Mama, wie fühlst du dich?«
Eine runzlige kleine Greisin lächelte beim Klang der vertrauten Stimme und antwortete zärtlich: »Der Puls ist gut, sehr gut, keine Unregelmäßigkeiten. Mach dir keine Sorgen.«
Irgendjemand neben Sofja Ossipowna sagte: »Das ist Gelman, ein berühmter Internist.«
Eine nackte junge Frau, die ein kleines Mädchen mit vollen Lippen in kurzen weißen Hosen auf dem Arm hielt, schrie plötzlich: »Sie bringen uns um, sie bringen uns um, sie bringen uns um!«
»Still doch, still, beruhigt doch die Verrückte«, wisperten die Frauen und schauten sich ängstlich um. Es war kein Posten zu sehen. Augen und Ohren durften sich in dem friedlichen Halbdunkel
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