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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Katze.«
    Sie konnte sich auf den Beinen halten und überschritt zusammen mit David die stählerne Schwelle.
    49
    David ließ seine Hand über den stählernen Türrahmen gleiten, er fühlte sich glatt und kalt an. In dem stählernen Spiegel sah er einen verschwommenen hellgrauen Fleck – sein Gesicht. An den nackten Sohlen spürte er, dass der Boden in der Kammer kälter war als auf dem Gang. Er war kürzlich abgespritzt worden.
    David schob sich mit kleinen Schritten durch den niedrigen Betonkasten. Er sah keine Lampen, doch in der Kammer herrschte ein graues Licht, als schiene die Sonne durch den betonverhängten Himmel. Es schien nicht für Lebewesen bestimmt zu sein, dieses steinerne Licht.
    Menschen, die die ganze Zeit zusammen gewesen waren, wurden hier auseinandergerissen, verloren sich im Gedränge. Einen Augenblick tauchte neben ihm das Gesicht von Ljussja Sterntal auf – David hatte sie im Zug immer wieder angestarrt und dabei eine süße, traurige Verliebtheit empfunden. Gleich darauf stand eine stämmige, kleine Frau ohne Hals an Ljussjas Stelle, wieder einen Augenblick später tauchte dort ein blauäugiger Greis mit weißem Haarflaum auf, und schließlich sah David in die weit aufgerissenen, starren Augen eines jungen Mannes.
    Es war eine für Menschen untypische Bewegung, die hier ablief; diese Bewegung wäre auch untypisch für niedere Lebewesen gewesen. Sie hatte keinen Sinn und kein Ziel, kein lebendiger Wille kam darin zum Ausdruck. Der Menschenstrom ergoss sich unaufhaltsam in die Kammer. Die neu Eintretenden stießen die bereits Eingetretenen, diese wiederum stießen ihre Nachbarn, und aus diesen zahllosen kleinen Stößen mit Ellbogen, Schultern und Bäuchen entstand schließlich diese Bewegung, die sich durch nichts von der Brown’schen Molekularbewegung unterschied.
    David schien es, als müsse er sich einfach vorwärts bewegen. Er kam an die Wand, berührte ihre kalte, glatte Fläche, erst mit dem Knie, dann mit der Brust. Der Weg war zu Ende. Sofja Ossipowna drückte sich gegen die Wand.
    Einige Augenblicke lang betrachteten sie die von der Tür auf sie zukommenden Menschen. Die Tür war weit weg, und man konnte nur an der dort herrschenden besonderen Dichte der weißen Masse menschlicher Leiber erkennen, wo sie war.
    David sah die Gesichter der Menschen. Seitdem sie am Morgen aus dem Zug ausgeladen worden waren, hatte er immer nur ihre Rücken gesehen, jetzt schien sich der ganze Transport plötzlich mit dem Gesicht auf ihn zu zu bewegen. Plötzlich wirkte auch Sofja Ossipowna verändert, ihre Stimme klang in dem niedrigen Betonraum ganz anders. Als sie sagte: »Halt dich gut an mir fest, mein Kleiner«, spürte er, dass sie Angst hatte, ihn zu verlieren, Angst, allein zu bleiben. Sie konnten sich nicht lange an der Wand halten, wurden von ihr weggedrückt und begannen, sich wieder mit kleinen Schritten weiterzubewegen. David fühlte, dass er schneller vorankam als Sofja Ossipowna. Ihre Hand drückte die seine, zog ihn zu sich her. Aber eine elastische, stetige Kraft zog David von ihr weg, Sofja Ossipownas Finger begannen nachzugeben.
    Immer gedrängter stand die Menge in der Kammer, immer langsamer wurden die Bewegungen und immer kürzer die Schritte der Menschen. Niemand lenkte die Bewegung in dem Betonkasten. Es war den Deutschen egal, ob die Leute stillstanden oder sich in sinnlosem Zickzack und in Halbkreisen bewegten. Auch der nackte Junge machte winzige, sinnlose Schrittchen. Die Bewegungskurve seines kleinen, leichten Körpers deckte sich nicht mehr mit derjenigen des großen und schweren Körpers von Sofja Ossipowna, und so wurden sie getrennt. Nicht an der Hand hätte sie ihn halten sollen, sondern so wie jene beiden Frauen, Mutter und Tochter, sich hielten – krampfhaft, mit der finsteren Entschlossenheit der Liebe, aneinandergepresst, Wange an Wange, Brust an Brust, ein einziger, untrennbarer Körper.
    Es wurden immer mehr Menschen, und im Zuge der Verdichtung in der Kammer wich die Molekularbewegung immer stärker vom Avogadro’schen Gesetz ab. Als David Sofja Ossipownas Hand loslassen musste, stieß er einen Schrei aus, doch gleich darauf war Sofja Ossipowna für ihn bereits in die Vergangenheit entrückt. Es gab nur noch das Jetzt, den Augenblick. Die Menschen neben ihm atmeten, ihre Körper berührten sich, ihre Gedanken und Gefühle begannen eins zu werden.
    David geriet in den Teil der Zirkulation, der sich von der Wand weg zurück zum Eingang bewegte. Er sah drei

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