Leben und Schicksal
fensterlosen Rechtecke mit den grauen Wänden für David aus wie große Bauklötze, von denen man die Bilder abgezogen hatte.
Der Junge hatte an der Kurve, als in den abbiegenden Reihen eine Lücke entstanden war, die Gebäude mit den geöffneten Türen erblickt und, ohne dass er sich selbst den Grund erklären konnte, die Schachtel mit der Puppe aus der Tasche gezogen und weggeworfen. Sollte wenigstens sie am Leben bleiben!
»Kapitale Kerle, diese Deutschen«, sagte vorne jemand, als ob die Wachen seine Schmeichelei hätten hören und würdigen können.
Der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen zuckte irgendwie eigenartig mit den Schultern, sah sich nach rechts und links um, streckte sich, und plötzlich – mit einem leichten Sprung, als breite er seine Flügel aus – schlug er dem SS-Posten mit der Faust ins Gesicht, warf ihn zu Boden. Sofja Ossipowna stieß einen heiseren, bösen Schrei aus und wollte hinterherstürzen, doch sie stolperte und fiel. Sofort griffen mehrere Hände nach ihr und halfen ihr auf. Die hinter ihnen Gehenden drängten, und als David voller Angst, umgerannt zu werden, flüchtig zurückschaute, sah er, wie die Wächter den Mann auf die Seite zerrten.
Als Sofja Ossipowna versuchte, sich auf den Posten zu stürzen, hatte sie den Jungen völlig vergessen. Jetzt nahm sie ihn wieder an die Hand. David sah, wie klar, böse und schön die Augen eines Menschen sein können, wenn er für einen kurzen Augenblick die Freiheit gespürt hat.
Inzwischen waren die ersten Reihen bereits auf dem asphaltierten Platz vor dem Eingang zum Bad angekommen, nun hatten ihre Schritte einen neuen Klang, als sie durch die weit geöffneten Tore gingen.
48
In den feuchtwarmen Auskleideraum fiel durch kleine rechteckige Fensterchen ein angenehmes, dämmriges Licht.
Die Holzbänke aus dicken, ungehobelten Brettern, auf denen mit Ölfarbe Nummern aufgemalt waren, verloren sich im Halbdunkel. In der Mitte des Raumes verlief der Länge nach eine halbhohe Trennwand; auf der einen Seite zogen sich die Männer aus, auf der anderen die Frauen und Kinder.
Diese Trennung war nicht weiter beunruhigend, da man sich ja über die Wand hinweg weiter unterhalten und sehen konnte: »Manja, Manja, bist du da?« – »Ja, ja, ich sehe dich.« Irgendjemand schrie: »Matilda, bring den Schwamm mit und schrubb mir mal den Rücken.« Eine allgemeine Beruhigung trat ein.
Ernsthaft dreinblickende Leute in Kitteln gingen durch die Reihen, mahnten zur Ordnung und empfahlen, Socken, Strümpfe und Fußlappen in die Schuhe zu stecken und sich unbedingt die Reihen- und Platznummer zu merken.
Die Stimmen klangen leise, gedämpft.
Wenn sich ein Mensch völlig nackt auszieht, nähert er sich selbst … Mein Gott, die Haare auf der Brust waren ja noch stärker und dichter geworden, und wie viele graue dabei waren … Was für scheußliche Zehennägel … Wer sich selbst nackt betrachtet, für den gibt es keine andere Erkenntnis als die: »Das also bin ich.« Er erkennt sich und definiert dieses Ich – es ist immer gleich. Der kleine Junge betrachtet mit über der mageren Brust gekreuzten, dünnen Ärmchen seinen Froschkörper und denkt: »Das also bin ich«, und fünfzig Jahre später, wenn er die dicken blauen Adern an seinen Beinen und die fette, schlaffe Brust betrachtet, denkt er wieder: »Das also bin ich.«
Sofja Ossipowna jedoch hatte eine seltsame, erschreckende Vision: In der Entblößung der jungen und alten Leiber – des hakennasigen, mageren Jungen, über den eine Alte kopfschüttelnd sagte: »Ach, du unglückseliger Chassid!«, und des vierzehnjährigen Mädchens, auf das sich sogar hier Hunderte von bewundernden Blicken richteten, in der Hässlichkeit und Schwachheit der ehrfurchtgebietenden Greise und Greisinnen, in der Kraft der behaarten Männerrücken, der sehnigen Beine und großen Brüste der Frauen – in alledem trat ihr der unter Lumpen verhüllte Leib des Volkes entgegen. Sofja Ossipowna empfand dieses »Das also bin ich« nicht allein auf sich selbst, sondern auf alle diese Menschen bezogen. Es war der nackte Körper des Volkes, jung und alt, lebendig, wachsend, stark und welkend, lockig und grauhaarig, hübsch und hässlich, stark und schwach zugleich. Sofja Ossipowna betrachtete ihre üppigen weißen Schultern, die niemand je geküsst hatte außer in ihrer Kindheit die Mutter, dann richtete sie ihren Blick sanft auf den Jungen. Hatte sie sich wirklich noch vor ein paar Minuten, ohne an den Jungen zu denken, in
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