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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Menschen, die sich eng umschlungen hielten: zwei Männer und eine alte Frau Sie schützte ihre Kinder, und die Männer stützten ihre Mutter. Plötzlich entstand neben David eine neue Bewegung. Auch ein neues Geräusch wurde über dem Murmeln und Schlurfen laut:
    »Lasst mich durch, aus dem Weg!« – Durch die geschlossene Menschenmasse kämpfte sich mit gesenktem Kopf und starken, angespannten Armen ein stiernackiger Mann. Er wollte heraus aus dem hypnotischen Betonrhythmus. Sein Körper lehnte sich dagegen auf, wie ein Fisch auf dem Küchentisch, blindlings, ohne Plan. Doch schon bald beruhigte er sich wieder, fiel keuchend in die Bewegung der anderen ein.
    Sein Ausbruch hatte aber die Bewegungskurven verändert, sodass sich David plötzlich neben Sofja Ossipowna wiederfand. Sofort drückte sie den Jungen mit jener Kraft an sich, die nur die Arbeiter in den Vernichtungslagern richtig ermessen konnten.
    Wenn sie die Kammer entleerten, versuchten sie nie, derart umschlungene Leiber voneinander zu trennen.
    Von der Tür her ertönten Schreie. Beim Anblick der dichten Menschenmasse, die die Kammer füllte, verweigerten die Letzten den Eintritt.
    David sah, wie sich die Tür schloss: Weich glitt die Stahltür, wie von einem Magnet gezogen, auf den stählernen Türrahmen zu, bis beide miteinander verschmolzen.
    David bemerkte, dass sich im oberen Teil der Wand hinter einem quadratischen Drahtnetz etwas bewegte. Erst dachte er, es sei eine Ratte, doch dann begriff er: Man hatte den Ventilator eingeschaltet. Ein schwacher, süßlicher Geruch breitete sich aus.
    Das Schlurfen der Schritte war verstummt, nur hin und wieder hörte man undeutliche Worte, Stöhnen, kurze Aufschreie. Die Menschen brauchten keine Worte mehr. Auch Handeln war sinnlos geworden, es hätte in die Zukunft gewiesen, und eine Zukunft gab es in der Gaskammer nicht. Die Bewegungen von Davids Kopf und Hals weckten in Sofja Ossipowna nicht mehr den Wunsch, dorthin zu blicken, wohin ein anderes Lebewesen blickt.
    Ihre Augen, mit denen sie Homer, die »Iswestija«, »Huckleberry Finn«, Mayne Reid und Hegels »Logik« gelesen, mit denen sie gute und schlechte Menschen gesehen hatte, Gänse auf grünen Kursker Wiesen, Sterne durch den Refraktor des Pulkower Observatoriums, das Blitzen des Chirurgenstahls, die Mona Lisa im Louvre, Tomaten und Rüben auf Marktständen, die Bläue des Issyk-Kul – diese Augen brauchte sie nun nicht mehr. Hätte sie jemand in diesem Moment geblendet, es hätte ihr nichts ausgemacht.
    Sie atmete, doch das Atmen wurde zur Schwerarbeit und kostete sie ihre ganze Kraft. Sie wollte sich konzentrieren auf letzte Gedanken unter ohrenbetäubendem Glockengedröhn. Doch es wollte und wollte nicht gelingen. Sofja Ossipowna stand stumm, ohne die blicklosen Augen zu schließen.
    Die Bewegungen des Jungen erfüllten sie mit Mitleid. Ihr Gefühl für ihn war so einfach – es bedurfte keiner Worte oder Blicke. Der halbtote Junge atmete noch, doch die Luft, die man ihm spendete, verlängerte sein Leben nicht, sondern verscheuchte es. Sein Kopf drehte sich hin und her, er wollte noch immer schauen. Er sah die, die sich hingesetzt hatten, sah offene, zahnlose Münder, Münder mit weißen und goldenen Zähnen, sah einen dünnen Blutstrahl aus Nasenlöchern rinnen. Er sah neugierige Augen durch das Guckfenster in die Kammer blicken, für einen Augenblick trafen sich sein und Roses Blick. Er brauchte auch seine Stimme noch, er wollte Tante Sonja nach diesen Wolfsaugen fragen. Auch denken wollte er noch. Er hatte doch erst einige wenige Schritte in dieser Welt getan, hatte die Spuren nackter Kinderfüße auf heißem, staubigem Boden gesehen. In Moskau wohnte seine Mutter, der Mond schaute herab, und von unten schauten Kinderaugen zu ihm hinauf, auf dem Gasherd kochte das Teewasser; die Welt, in der ein Huhn ohne Kopf herumrannte, die Welt, in der Vögel sangen, in der man Frösche tanzen lassen konnte, wenn man sie an den Vorderbeinen festhielt, und in der es Milch zum Frühstück gab, diese Welt ließ ihn noch immer nicht los.
    Die ganze Zeit hielten ihn kräftige, heiße Hände umschlungen, David begriff nicht, dass es dunkel wurde in seinen Augen, dass es im Herzen zu dröhnen begann, dass sein Gehirn stumpf wurde und blind. Man hatte ihn getötet.
    Sofja Ossipowna spürte, wie der Körper des Jungen in ihren Armen zusammensackte. Wieder war sie von ihm getrennt worden. In unterirdischen Stollen mit vergifteter Luft zeigen Vögel und Mäuse das

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