Leben und Schicksal
verhaftet worden, weil sie ihren Mann nicht angezeigt hat, das Urteil belief sich, glaube ich, auf acht Jahre, ich weiß es nicht genau, ich schreibe ihr nicht, Temnik heißt, scheint’s, der Ort, habe es zufällig erfahren, von ihrer Tochter auf der Straße … Weiß nicht genau, man hat ihn, glaube ich, Anfang 1938 geholt, ja, zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel …
Der Bruder meiner Frau war Parteimitglied, wir haben uns selten gesehen; kein Briefwechsel, weder mit mir noch mit meiner Frau; die Schwiegermutter ist, glaube ich, zu ihm hingefahren, ja, ja, lange vor dem Krieg; seine zweite Frau wurde in die Verbannung geschickt, weil sie ihn nicht angezeigt hatte, sie ist während des Krieges gestorben, sein Sohn ist bei Stalingrad an der Front, hat sich freiwillig gemeldet … Meine Frau ist von ihrem ersten Mann geschieden, ihr Sohn aus erster Ehe, mein Stiefsohn, ist bei Stalingrad gefallen … Ihr erster Mann wurde verhaftet, seit der Scheidung weiß meine Frau nichts von ihm. Weswegen man ihn verurteilt hat, weiß ich nicht, irgendwo habe ich was läuten hören von Zugehörigkeit zur trotzkistischen Opposition, aber ich bin nicht sicher, es hat mich auch nicht interessiert …
Ein auswegloses, trostloses Gefühl, sich schuldig gemacht, sich befleckt zu haben, überkam Strum. Er musste an das Schuldbekenntnis eines KPdSU-Mitglieds denken. Der Mann hatte sich auf einer Versammlung bekannt: »Genossen, ich bin kein Unsriger.«
Plötzlich packte ihn die Wut. Er protestierte: »Ich gehöre nicht zu den Demütigen und Friedfertigen. Sadko mag mich nicht, na wennschon! Ich stehe allein, meine Frau interessiert sich nicht mehr für mich, na wennschon! Ich sage mich nicht los von den Unglückseligen, den unschuldig ums Leben Gekommenen.
Es ist beschämend, Genossen, an dies alles überhaupt rühren zu müssen! Es handelt sich um völlig unschuldige Menschen! Und gar die Kinder und Frauen – was haben denn die verbrochen? Man müsste ihnen gegenüber Abbitte leisten, sie um Verzeihung bitten. Stattdessen wollt ihr nun meine Minderwertigkeit beweisen, mir jegliche Vertrauenswürdigkeit nehmen, weil ich mit jenen, die unschuldig gelitten haben, in verwandtschaftlicher Beziehung stehe?
Wenn ich schuldig bin, dann nur deshalb, weil ich ihnen nicht in ihrem Unglück beigestanden habe.«
Doch gleichzeitig meldete sich ein zweiter, genau entgegengesetzter Gedanke:
»Ich habe doch mit ihnen keine Verbindung gehalten. Ich habe nicht mit Feinden korrespondiert, keine Briefe aus Straflagern erhalten, habe ihnen keine materielle Unterstützung gewährt, mich nur selten und zufällig mit ihnen getroffen.«
»30. Lebt einer Ihrer Verwandten im Ausland (wo, seit wann, warum hat der Betreffende das Land verlassen)? Haben Sie Kontakt zu ihm?« Die neue Frage verstärkte seine Beklommenheit.
»Genossen, versteht ihr denn nicht, dass unter den Bedingungen, die im zaristischen Russland geherrscht haben, die Emigration unvermeidlich war? Wer arm war, wer die Freiheit liebte, der musste doch auswandern! Auch Lenin hat schließlich in London, Zürich und Paris gelebt. Warum zwinkert ihr euch so vielsagend zu, wenn ihr von meinen Tanten und Onkeln, von ihren Töchtern und Söhnen in New York, Paris und Buenos Aires lest … Irgendeiner meiner Bekannten hat mal den Witz gemacht: ›Es heißt, der reiche Onkel in Amerika lässt einen nicht zugrunde gehen. Fatal! Eben mit einem solchen Onkel gehst du zugrunde.‹«
Tatsächlich, die Liste seiner im Ausland lebenden Verwandten fiel fast ebenso lang aus wie die seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Wenn man nun noch die Liste der staatlich Verfolgten hinzufügte …
Da stand er also vor ihnen, in einzelne Schichten zerlegt. Auf den Müll mit ihm! Ein Fremdling! Doch das war Lüge, Lüge! Ihn brauchte die Wissenschaft, ihn, und nicht Gawronow und Dubenkow. Er würde doch sein Leben für das Vaterland geben. Existierten denn etwa nicht genügend Leute mit makellosem Personalbogen, die zu Betrug und Verrat fähig waren? Gab es umgekehrt nicht genug Leute, in deren Fragebogen stand: Vater Kulak, Vater ehemaliger Großgrundbesitzer, und die ihr Leben im Kampf opferten, zu den Partisanen gingen, bereit waren, ihren Kopf hinzuhalten?
Na und? Er wusste doch: Die statistische Methode beruhte auf der Wahrscheinlichkeit. Es bestand eben eine größere Wahrscheinlichkeit, den Feind unter Menschen mit nicht werktätiger Vergangenheit zu finden als unter Menschen aus dem
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