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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Proletariermilieu. Aber auch die deutschen Faschisten arbeiteten nach diesem Prinzip, wenn sie ganze Völker und Nationen ausrotteten. Es war ein unmenschliches Prinzip, unmenschlich und blind. Unter Menschen aber durfte es nur ein Prinzip geben – das menschliche.
    Viktor Pawlowitsch würde einen anderen Fragebogen erstellen, wenn er jemanden für sein Labor suchte, einen menschlicheren.
    Es spielte für ihn keine Rolle, ob sein künftiger Mitarbeiter Russe, Jude, Ukrainer oder Armenier wäre, ob dessen Großvater Arbeiter, Fabrikant oder Kulak gewesen wäre, sein Verhältnis zu einem Arbeitskollegen hinge nicht davon ab, ob dessen Bruder vom Geheimdienst verhaftet worden wäre; ihm wäre es gleich, ob die Schwestern des Betreffenden in Kostroma oder Genf wohnten.
    Er würde fragen, seit wann sich der Betreffende für theoretische Physik interessiere, was er von Einsteins Kritik am alten Planck halte, ob er allein zu mathematischen Überlegungen tendiere oder auch an experimenteller Arbeit interessiert sei, wie er zu Heisenberg stehe, ob er an die Möglichkeit einer einheitlichen Feldgleichung glaube … Das Wichtigste, das Allerwichtigste war doch die Begabung, das Feuer, der göttliche Funke.
    Er würde fragen – natürlich nur, wenn der Bewerber darauf antworten wolle –, ob er gern wandere, Bier trinke, Symphoniekonzerte besuche, ob ihm die Kinderbücher von Seton-Thompson gefielen, wen er vorziehe, Tolstoi oder Dostojewski, ob er sich für Gartenbau interessiere, ob er gern angle, was er von Picasso halte und welche Erzählung Tschechows er als die beste erachte …
    Er würde sich dafür interessieren, wie er wäre, ob eher schweigsam oder redselig, ob gut, intelligent, nachtragend, reizbar oder ehrgeizig und ob er eventuell ein Techtelmechtel mit der schönen Verotschka Ponomarewa anfangen würde.
    Erstaunlich gut hatte Madjarow über dieses Problem gesprochen, so gut, dass Strum immer wieder denken musste, er sei vielleicht doch ein Spitzel gewesen.
    »Mein Gott …«
    Strum griff nach dem Füller und schrieb: »Esther Semjonowna Daschewskaja, Tante mütterlicherseits, lebt in Buenos Aires seit 1909, ist Musiklehrerin.«
    55
    Strum betrat Schischakows Büro mit dem festen Vorsatz, sich zu beherrschen und kein einziges scharfes Wort zu sagen.
    Er hatte begriffen, wie dumm es war, sich darüber zu ärgern und zu grämen, dass er und seine Arbeit für diesen Wissenschaftsfunktionär an allerletzter Stelle standen.
    Kaum aber erblickte er Schischakows Gesicht, da begann es in ihm zu kochen.
    »Alexej Alexejewitsch«, sagte er, »das Sprichwort sagt, Liebe lässt sich nicht erzwingen, aber Sie haben wirklich noch kein einziges Mal Interesse an der Montage unserer Anlage bekundet.«
    Begütigend erwiderte Schischakow: »Ich schaue ganz bestimmt in nächster Zeit mal bei Ihnen rein.«
    Der Chef versprach also, Strum gnädigst mit seinem Besuch beehren zu wollen.
    Schischakow fügte hinzu: »Im Großen und Ganzen scheint mir aber, dass die Institutsleitung Ihren Belangen in ausreichendem Maße Beachtung schenkt, oder?«
    »Ja, vor allem die Personalabteilung.«
    Schischakow fragte ganz friedfertig: »Was macht Ihnen denn die Personalabteilung für Schwierigkeiten? Sie sind der erste Laborleiter, der eine derartige Klage vorbringt.«
    »Alexej Alexejewitsch, ich habe mehrfach vergeblich gebeten, Weißpapier aus Kasan zurückzuberufen, sie ist eine unersetzliche Spezialistin für Kernfotografie. Und ich wehre mich entschieden gegen die Entlassung von Loschakowa. Sie ist eine ausgezeichnete Mitarbeiterin und ein hervorragender Mensch. Es ist mir unbegreiflich, wie man die Loschakowa entlassen kann. Es ist unmenschlich. Und schließlich bitte ich dringend, die Bewerbung des Kandidaten der Wissenschaften Landesman anzunehmen. Er ist ein begabter Junge. Sie unterschätzen einfach die Bedeutung unseres Labors, sonst müsste ich keine Zeit auf derlei Gespräche verschwenden.«
    »Ich verschwende meine Zeit ja auch auf derlei Gespräche«, sagte Schischakow.
    Strum freute sich, dass Schischakow endlich seinen friedfertigen Ton ablegte, und zeigte ihm nun ungehindert seine Empörung: »Besonders bedauerlich ist, dass diese Probleme offenbar immer bei Leuten mit jüdischem Namen auftreten.«
    »Aha, so ist das also«, sagte Alexej Alexejewitsch und ging nun offen zum Kampf über.
    »Viktor Pawlowitsch«, sagte er, »das Institut hat verantwortungsvolle Aufgaben zu erfüllen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie schwierig

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