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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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die Zeiten sind. Ich gehe davon aus, dass Ihr Labor zurzeit den Anforderungen, die diese Aufgaben an Sie stellen, nicht voll gewachsen ist. Und da macht man nun ausgerechnet um Ihre Arbeit, die zweifellos interessant, aber doch ebenso strittig ist, einen solchen Wirbel!«
    Mit Nachdruck fuhr er fort: »Das ist nicht nur meine Ansicht. Die Genossen finden, dass dieser Lärm die wissenschaftlichen Mitarbeiter nur verwirrt. Gestern haben sie ausführlich mit mir über dieses Thema gesprochen. Es wurde die Ansicht geäußert, dass Sie Ihre Schlussfolgerungen noch einmal überdenken sollten, da sie den materialistischen Vorstellungen von der Natur der Materie widersprechen, und dass Sie unbedingt selbst in der Öffentlichkeit zu diesem Vorwurf Stellung nehmen müssten. Manche Leute sind aus mir unerklärlichen Gründen daran interessiert, die generelle wissenschaftliche Linie mit strittigen Theorien zu unterminieren, und das zu einer Zeit, wo wir alle unsere Kräfte auf die Aufgaben konzentrieren müssen, die uns der Krieg stellt. Das ist alles sehr, sehr ernst. Sie sind mit seltsamen Forderungen bezüglich einer Loschakowa zu mir gekommen. Entschuldigen Sie, aber ich habe nicht gewusst, dass Loschakowa ein jüdischer Name ist.«
    Strum war sprachlos. Zum ersten Mal hatte ihm jemand ins Gesicht gesagt, dass er Strums Arbeit ablehnte, und nicht etwa irgendjemand, sondern ein Mitglied der Akademie und Leiter des Instituts, an dem Strum arbeitete.
    Ohne Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen sprach er nun alles aus, was er dachte und was er gerade deshalb nie hätte aussprechen dürfen.
    Er sagte, dass es in der Physik nicht darum gehe, ob sie einer Philosophie entspreche oder nicht, dass auf dem Gebiet der Naturwissenschaften die Logik mathematischer Schlüsse zwingender sei als die Logik von Engels und Lenin, und wenn Herr Badjin von der Wissenschaftsabteilung des ZK die Vorstellungen Lenins auf Mathematik und Physik angewandt wissen wolle, so seien diese Vorstellungen Lenins von Mathematik und Physik eben doch unerheblich. Er sagte, dass diese enge Anlehnung an die Praxis, von wem auch immer sie gepredigt werde, und sei es vom lieben Herrgott persönlich, der Tod der Wissenschaft sei. Nur eine große Theorie könne auch eine große Praxis hervorbringen. Er sei überzeugt, dass noch im zwanzigsten Jahrhundert alle Kardinalfragen der Technik, und nicht nur der Technik, auf der Grundlage der Nuklearphysik gelöst werden könnten. Er werde sich gern in diesem Sinne öffentlich äußern, wenn die Genossen, deren Namen ihm Schischakow ja nicht genannt habe, darauf Wert legten.
    »Und was die Frage der Menschen jüdischen Namens betrifft, Alexej Alexejewitsch, so sollten Sie darüber wirklich keine Witze machen, wenn Sie sich zur russischen Intelligenz zählen. Wenn Sie meine Bitten nicht erfüllen, werde ich das Institut unverzüglich verlassen. Ich kann so nicht weiterarbeiten.«
    Er holte tief Luft, besann sich kurz und fügte dann, den Blick auf Schischakow gerichtet, hinzu: »Mir fällt es schwer, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Ich bin nicht nur Physiker, sondern auch Mensch. Ich schäme mich vor den Mitarbeitern, die von mir Hilfe und Schutz vor Ungerechtigkeit erwarten.«
    Jetzt sagte er: »Es fällt mir schwer, unter solchen Bedingungen zu arbeiten.« Ein zweites Mal hatte er es nicht über sich gebracht, sein sofortiges Ausscheiden aus dem Institut anzudrohen. Strum sah an Schischakows Gesicht, dass auch diesem die abgemilderte Formulierung aufgefallen war.
    Vielleicht hakte er gerade deshalb hier ein: »In diesem ultimativen Ton brauchen wir uns gar nicht weiter zu unterhalten. Ihren Wunsch, aus dem Institut auszuscheiden, werde ich natürlich in Betracht ziehen.«
    Freude und Schmerz wechselten einander ab während des restlichen Tages, den Strum im Institut verbrachte. Die Instrumente im Labor und die neue Anlage, die nun fast fertig montiert war – sie waren ein Teil seines Lebens, seines Gehirns, seines Körpers. Wie sollte er ohne sie leben?
    Er dachte an die häretischen Worte, die er dem Direktor gesagt hatte, und der Schweiß brach ihm aus. Gleichzeitig aber fühlte er sich stark. Seine Wehrlosigkeit war zugleich seine Stärke. Er hätte aber auch nie gedacht, dass er nach seiner Rückkehr nach Moskau, auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn, ein solches Gespräch führen müsste.
    Obgleich niemand von seinem Zusammenstoß mit Schischakow wissen konnte, schien es ihm, als behandelten

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