Leben und Schicksal
ihn seine Mitarbeiter an diesem Tag besonders zuvorkommend.
Anna Stepanowna nahm seine Hand und drückte sie.
»Viktor Pawlowitsch, ich möchte Ihnen nicht danken, aber ich weiß, dass Sie sich immer treu bleiben«, sagte sie.
Er stand schweigend neben ihr, erregt und nahezu glücklich. »Siehst du, Mama«, dachte er plötzlich.
Auf dem Heimweg beschloss er, seiner Frau nichts zu sagen, aber die Gewohnheit, alles mit ihr zu teilen, was ihm widerfuhr, war stärker, und so sagte er, als er im Flur den Mantel auszog: »Hör zu, Ljudmila, ich werde das Institut verlassen.«
Ljudmila wurde böse und machte ihm bittere Vorwürfe: »Du führst dich auf, als wärst du Lomonossow oder Mendelejew. Wenn du weggehst, wird eben Sokolow oder Markow deinen Platz einnehmen.« Sie hob den Kopf von der Näharbeit und fuhr fort: »Dein Landesman soll schleunigst an die Front gehen, sonst glauben voreingenommene Leute wirklich noch, dass da wieder ein Jude einen Juden in einem für die Verteidigung wichtigen Institut unterbringen will.«
»Schon gut, schon gut, es reicht«, sagte er. »Erinnerst du dich, wie es bei Nekrassow heißt? ›Der Arme dachte, in den Tempel des Ruhms zu kommen, und musste froh sein, im Krankenhaus zu landen.‹ – Ich hab geglaubt, dass ich mir das Brot, das ich esse, redlich verdient habe, und jetzt verlangen sie von mir, dass ich öffentlich Abbitte leiste, dass ich bekenne, Irrlehren verbreiten zu wollen. Stell dir das mal vor! Ein öffentliches Schuldbekenntnis! Das ist doch Wahnsinn! Dabei schlägt man mich für den Stalin-Preis vor, und die Studenten rennen mir die Bude ein. Da steckt nur dieser Badjin dahinter! Ach wo, was sag ich denn, nicht Badjin, sondern Sadko, der mag mich eben nicht.«
Ljudmila Nikolajewna kam zu ihm, rückte seine Krawatte zurecht, zupfte am Revers seines Jacketts und sagte: »Du hast sicher noch nicht zu Mittag gegessen, bist ganz blass.«
»Ich mag nicht essen.«
»Iss erst mal ein Butterbrot, ich wärm dir inzwischen das Essen auf.«
Dann ließ sie einige Tropfen eines Herzmittels in ein Gläschen fallen und hielt es ihm hin: »Trink das bitte, du gefällst mir gar nicht, lass mich mal deinen Puls fühlen.«
Sie gingen in die Küche. Strum kaute sein Brot und besah sich im Spiegel, den Nadja neben der Gaslampe aufgehängt hatte.
»Wie komisch, wie absurd«, sagte er. »Nie hätte ich in Kasan gedacht, dass ich einen ellenlangen Fragebogen ausfüllen und mir anhören müsste, was ich heute zu hören bekommen habe. Was für eine Macht! Staat und Mensch … Bald erhebt er einen in Himmelshöhen, bald stößt er einen in den Abgrund, einfach so.«
»Vitja, ich möchte mit dir über Nadja reden«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Sie kommt fast täglich nach der Sperrstunde heim.«
»Das hast du mir neulich doch schon mal erzählt«, sagte Strum.
»Ja, ich weiß. Gestern Abend aber bin ich zum Fenster gegangen, um die Verdunkelungsvorhänge zurechtzuziehen, und da sehe ich, wie Nadja mit einem Soldaten ankommt. Beim Milchladen sind sie stehengeblieben und haben geknutscht.«
»Donnerwetter«, sagte Viktor Pawlowitsch und hörte vor Überraschung auf zu kauen.
Nadja knutschte mit einem Soldaten! Strum saß einige Augenblicke schweigend da, dann fing er an zu lachen. Vielleicht hatte es gerade dieser niederschmetternden Nachricht bedurft, um ihn von seinen eigenen Sorgen loszureißen und seine innere Spannung zu lösen. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, und zu ihrer eigenen Überraschung fing auch Ljudmila Nikolajewna an zu lachen. In diesem Augenblick herrschte zwischen ihnen jenes völlige, jedem Menschen nur für wenige Minuten seines Lebens vergönnte Einvernehmen mit einem anderen, das keiner Worte und Gedanken bedarf.
Es kam für Ljudmila Nikolajewna nicht überraschend, dass Strum nun scheinbar unpassend sagte: »Ach, Liebes, Liebes, gib doch zu, dass ich recht habe, mit Schischakow zu brechen.«
Es war ein einfacher Gedankengang, aber nicht einfach zu verstehen. In ihm vereinten sich der Gedanke an das zurückliegende Leben, an das Schicksal Toljas und Anna Semjonownas, an den Krieg und daran, dass der Mensch, was immer er an Reichtum und Ruhm im Leben erwerben mag, immer älter wird und stirbt, dass an seine Stelle junge Menschen treten und dass das Wichtigste im Leben daher ist, anständig und aufrichtig zu bleiben.
Strum fragte wieder: »Ist’s nicht so, hab ich nicht recht?«
Ljudmila schüttelte den Kopf. Jahrzehnte des Zusammenlebens und
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