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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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der Zusammengehörigkeit konnten auch trennen.
    »Weißt du, Ljuda«, sagte Strum versöhnlich, »Menschen, die im Leben das Recht auf ihrer Seite haben, können sich oft nicht benehmen. Sie explodieren, werden grob, unduldsam und haben am Arbeitsplatz und zu Hause immer Streit. Und die anderen, die das Recht nicht auf ihrer Seite haben, die Beleidiger, die können sich benehmen, die argumentieren logisch, ruhig und taktisch richtig, die scheinen immer im Recht zu sein.«
    Nadja kam um elf. Als Ljudmila Nikolajewna ihren Schlüssel im Schloss hörte, sagte sie zu ihrem Mann: »Sprich doch bitte mit ihr.«
    »Das machst besser du; ich steh jetzt nicht auf«, antwortete Viktor Pawlowitsch, doch als Nadja zerzaust und mit hochroter Nase ins Esszimmer trat, fragte er: »Mit wem knutschst du vor der Haustür?«
    Nadja schaute sich unwillkürlich nach einem Fluchtweg um, dann starrte sie mit halb offenem Mund ihren Vater feindselig an.
    Einen Augenblick später zuckte sie die Schultern und sagte gleichgültig: »A … Andrjuscha Lomow, er ist an der Offiziersschule.«
    »Und, willst du ihn heiraten?«, fragte Strum, verblüfft über Nadjas selbstsicheren Ton. Er drehte sich nach seiner Frau um – ob sie Nadja sah?
    Wie eine Erwachsene kniff Nadja die Augen zusammen und warf die Worte gereizt hin: »Heiraten?«, fragte sie gedehnt, und bei diesem Wort durchfuhr es Strum plötzlich eiskalt. Wie, wenn sie »ja« sagte?
    Dann fügte sie hinzu: »Ja, vielleicht, oder nein, ich hab mich noch nicht fest entschlossen.«
    Ljudmila Nikolajewna, die die ganze Zeit geschwiegen hatte, fragte: »Nadja, warum hast du mich belogen, mir von irgendeinem Maika-Vater und irgendwelchem Unterricht erzählt? Ich habe meine Mutter nie angelogen!«
    Strum musste daran denken, wie Ljudmila damals, als er um sie warb, bei einem Rendezvous gesagt hatte: »Ich habe Tolja bei Mama gelassen, hab ihr vorgeschwindelt, ich ginge in die Bibliothek.«
    Nadja, die plötzlich wieder in ihr kindliches Wesen zurückfiel, schrie weinerlich und böse: »Und hinter mir herspionieren, ist das vielleicht schön? Hat deine Mutter vielleicht auch hinter dir herspioniert?«
    Strum donnerte los: »Hör sofort auf, so mit deiner Mutter zu reden!«
    Sie sah ihn gelangweilt und geduldig an.
    »Also, wie ist es, Nadeschda Viktorowna, Sie haben sich also noch nicht endgültig entschieden, ob Sie den jungen Obersten heiraten oder seine Geliebte werden wollen?«
    »Nein, und außerdem ist er kein Oberst«, antwortete Nadja.
    Konnte es wahr sein, dass irgend so ein hergelaufener Jüngling im Militärrock die Lippen seiner Tochter küsste? Konnte sich denn jemand in dieses Kind, diesen lächerlichen, kleinen Dummkopf verlieben, ihr tief in die Kinderaugen sehen?
    Aber – das war ja die unendliche Geschichte …
    Ljudmila Nikolajewna schwieg, sie wusste, dass Nadja nun schmollen und sich in Schweigen hüllen würde, dass sie ihr, wenn sie allein wären, über den Kopf streichen und dass Nadja schluchzen würde, ohne zu wissen warum, und dass Ljudmila, ebenfalls ohne zu wissen warum, schreckliches Mitleid mit ihr haben würde. Schließlich war es ja nicht so schlimm, wenn ein junges Mädchen einen Jungen küsste. Nadja würde ihr alles über diesen Lomow erzählen, und sie würde ihr übers Haar streichen und sich erinnern, wie sie selbst zum ersten Mal geküsst hatte, und an Tolja denken, denn alles, was sich in ihrem Leben ereignete, brachte sie mit Tolja in Verbindung. Tolja war nicht mehr.
    Wie traurig war diese Jungmädchenliebe am Rande des Kriegselends. Tolja, Tolja …
    Viktor Pawlowitsch jedoch, von väterlicher Sorge gepackt, musste sich Luft machen: »Wo dient dieser Kerl?«, polterte er. »Ich werde mit seinem Vorgesetzten sprechen. Der wird ihm den Marsch blasen, so etwas, Romanzen mit Rotznasen anfangen.«
    Nadja schwieg, und Strum, dem ihre Arroganz den Atem verschlug, verstummte ebenfalls. Dann fragte er: »Warum starrst du mich so an wie ein höheres Lebewesen eine Amöbe?«
    Auf eine seltsame Weise erinnerte ihn Nadjas Blick an das heutige Gespräch mit Schischakow. Ebenso ruhig und selbstsicher hatte ihn Alexej Alexejewitsch von der Höhe seiner staatlichen und akademischen Position herab angesehen, und unter dem Blick der hellen Augen Schischakows hatte Strum instinktiv die Vergeblichkeit all seiner Proteste, Forderungen und Ausbrüche erkannt. Die Macht der staatlichen Ordnung war wie ein Basaltbrocken, und Schischakow wusste, dass Strum ihn nicht verrücken

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