Leben und Schicksal
durchschnitt die Wüste. Minen explodierten in der Nähe der Kamele, und die Tiere rasten, ihre Gespanne abschüttelnd und Reste des Geschirrs hinter sich herschleifend, auf und davon. Darenski achtete nicht auf die Einschläge; er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, gefesselt von dem schauerlichen Anblick.
Mit ungewöhnlicher Klarheit erfüllte ihn in diesem Augenblick die Gewissheit, die letzten Tage des Vaterlandes seien gekommen. Die entsetzlichen Schreie der durch den Sand jagenden Kamele, die aufgeregten russischen Stimmen, die Deckung suchenden Soldaten! Das war das Ende Russlands! Russland ging unter, hier, in der kalten, vorderasiatischen Wüste, unter dem verdrossenen, gleichgültigen Mond, und die liebe, unendlich geliebte russische Sprache verschmolz mit den Schreckens- und Verzweiflungsschreien der von den deutschen Minen hin und her gepeitschten Kamele.
In diesen bitteren Minuten empfand er keinen Zorn oder Hass, nur ein Gefühl brüderlicher Verbundenheit mit allen Schwachen, allen Armen auf der Welt. Aus irgendeinem Grund tauchte das dunkle, alte Gesicht des Kalmücken vor ihm auf, den er in der Steppe getroffen hatte, und schien ihm ganz vertraut, wie das Gesicht eines alten Bekannten.
»Da lässt sich nichts mehr ändern, das ist so bestimmt«, dachte er und begriff, dass er nicht mehr leben wollte, wenn dies die Niederlage war.
Sein Blick fiel auf die Soldaten, die sich in den Gräben verschanzt hatten, und er nahm Haltung an, bereit, das Kommando über die Batterie in diesem freudlosen Kampf zu übernehmen.
»He, Telefonist«, schrie er. »Hierher! Zu mir!«
Aber plötzlich verstummte das Dröhnen der Explosionen.
In dieser Nacht gaben die drei Frontkommandeure Watutin, Rokossowski und Jeremenko auf Stalins Anweisung ihren Truppen den Befehl zu jenem Angriff, der im Verlauf von hundert Stunden die Schlacht von Stalingrad und das Schicksal der dreihundertdreißigtausend Mann starken Paulus-Armee entschied und der die Wende im Krieg brachte.
Im Stab wartete ein Telegramm auf Darenski: Man wies ihn an, zum Panzerkorps von Oberst Nowikow zu fahren und die Gruppe des Generalstabs über die dortigen Kampfhandlungen zu informieren.
61
Nicht lange nach dem Oktoberfeiertag flog die deutsche Luftwaffe wieder einen Großeinsatz gegen das Kraftwerk »Stalgres«. Achtzehn Flugzeuge warfen schwere Bomben auf das Werk.
Rauchwolken verhüllten die Trümmer, die Zerstörungsgewalt der deutschen Luftwaffe hatte den Betrieb des Kraftwerks vollständig zum Erliegen gebracht.
Nach diesem Angriff zitterte Spiridonows Hand so stark, dass er den Becher, den er zum Mund führte, immer wieder absetzen musste, um nicht noch mehr Tee zu verschütten. Seine Finger hörten erst auf zu zittern, als er etwas Wodka getrunken hatte.
Die Werksleitung hatte das Personal entlassen, und die Leute ließen sich von durchfahrenden Fahrzeugen über die Wolga nach Tumak mitnehmen, um sich von dort durch die Steppe nach Srednjaja Achtuba und Leninsk durchzuschlagen.
Auch die Werksleitung selbst hatte in Moskau telegrafisch um ihre Entlassung nachgesucht, da ihre Anwesenheit auf der Frontlinie zwischen den zerstörten Fabrikgebäuden keinen Sinn mehr hatte. Moskau aber zögerte mit der Antwort, und Spiridonow wurde immer nervöser. Der Parteigruppenorganisator Nikolajew war sofort nach dem Luftangriff ins ZK abkommandiert worden und mit einer »Douglas« nach Moskau geflogen.
Spiridonow und Kamyschow wanderten ziellos durch die Trümmer und redeten sich gegenseitig zu, dass sie hier eigentlich nichts mehr verloren hätten und verschwinden sollten. Aber Moskau schwieg beharrlich.
Stepan Fjodorowitsch machte sich vor allem Sorgen um Vera. Nach ihrer Überfahrt aufs linke Wolgaufer hatte sie sich schlecht gefühlt und war nicht nach Leninsk weitergefahren. Die fast einhundert Kilometer lange Fahrt auf der zerbombten Straße im Laderaum eines Lastwagens, der über steinhart gefrorene Schlammklumpen holperte und sprang, kam für sie im letzten Monat der Schwangerschaft nicht in Frage.
Ein paar Bekannte brachten sie zu einem am Ufer liegenden, im Fluss festgefrorenen Kahn, der als Notunterkunft diente.
Nach dem zweiten Bombenangriff schickte Vera dem Vater durch den Mechaniker eines Kutters eine Nachricht ins Kraftwerk. Sie bat ihn, sich nicht zu sorgen, man habe ihr im Schiffsraum einen gemütlichen abgeteilten Winkel zugewiesen. Unter den Evakuierten seien auch Krankenschwestern aus der Beketowka’schen Klinik und
Weitere Kostenlose Bücher