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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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sogar eine alte Hebamme; vier Kilometer vom Schiff sei ein Lazarett, sodass man im Notfall rasch einen Arzt holen könne. Auf dem Schiff gäbe es einen Wasserkocher, einen Ofen, und das Essen werde gemeinsam aus den vom Gebietskomitee bereitgestellten Nahrungsmitteln bereitet.
    Doch obgleich Vera den Vater bat, sich keine Sorgen zu machen, erfüllte ihn jedes ihrer Worte mit Unruhe. Nur eines tröstete ihn ein bisschen: Sie schrieb, dass man das Schiff bei dem Angriff nicht bombardiert hatte. Wenn Stepan Fjodorowitsch ans linke Ufer hinüberdürfte, dann könnte er sicher einen Pkw oder einen Krankenwagen beschaffen und Vera wenigstens bis Srednjaja Achtuba bringen.
    Doch Moskau schwieg weiterhin, Direktor und Erster Ingenieur wurden nicht abberufen, obwohl jetzt auf dem zerstörten Werksgelände allenfalls ein kleines Wachkommando erforderlich gewesen wäre. Die Arbeiter und Techniker des Kraftwerks hatten keine Lust gehabt, untätig herumzusitzen, sie hatten alle von Spiridonow die Erlaubnis erhalten, sich übersetzen zu lassen.
    Nur der alte Andrejew hatte sich geweigert, den offiziellen Entlassungsbescheid mit dem runden Stempel anzunehmen.
    Als Stepan Fjodorowitsch nach dem Angriff Andrejew vorgeschlagen hatte, nach Leninsk zu fahren, wo seine Schwiegertochter mit seinem Enkel wohnte, hatte dieser gesagt: »Nein, ich bleibe hier.«
    Er wollte die Verbindung zu seinem früheren Leben nicht abreißen lassen und fühlte sich diesem Leben hier, am Stalingrader Ufer, näher als in Leninsk. Vielleicht würde er sich nach einiger Zeit zu der Siedlung des Traktorenwerks durchschlagen können, würde durch die abgebrannten, zerstörten Häuser gehen, in das einst von seiner Frau bestellte Gärtchen kommen, würde die umgestürzten Bäumchen wieder aufrichten, prüfen, ob die vergrabenen Sachen noch da sind; würde sich dann auf einen Stein an dem verfallenen Zaun setzen und denken: »Also, Warwara, die Nähmaschine ist noch an ihrem Platz, nicht einmal verrostet. Der Apfelbaum am Zaun ist hin; ein Splitter hat ihn getroffen, aber das Sauerkraut im Keller ist nur oben ein bisschen schimmlig.«
    Stepan Fjodorowitsch hätte sich gerne mit Krymow beraten, doch der war seit der Feier nicht mehr im Kraftwerk gewesen.
    Spiridonow und Kamyschow beschlossen, bis zum siebzehnten November auszuharren und dann wegzugehen – sie hatten im »Stalgres« wirklich nichts mehr zu tun, und die Deutschen beschossen das Werk immer noch in gewissen Abständen. Kamyschow, der seit dem Großangriff sehr nervös war, sagte: »Stepan Fjodorowitsch, am Ende klappt’s bei denen mit der Aufklärung nicht so recht, und sie knüppeln immer wieder auf uns ein. Jeden Augenblick kann die Luftwaffe wieder hier aufkreuzen. Sie kennen ja die Deutschen, die lassen nicht locker, wie die Ochsen werden sie uns immer wieder bearbeiten.«
    Am achtzehnten November verließ Stepan Fjodorowitsch, nachdem er sich von der Wache verabschiedet und Andrejew umarmt hatte, das »Stalgres«, ohne die offizielle Erlaubnis aus Moskau abgewartet zu haben. Er warf einen letzten Blick auf die Trümmer des Werks.
    Wie viel Arbeit hatte er in diesem Werk geleistet, hart hatte er gearbeitet und gut während dieser Kämpfe um Stalingrad. Seine Arbeit wog umso schwerer, als er Angst vor dem Krieg gehabt hatte, an Frontbedingungen nicht gewöhnt gewesen war, ständig vor Bombenangriffen gezittert hatte und während der Angriffe vor Angst fast gestorben war; und trotzdem hatte er weitergearbeitet.
    Er ging mit seinem Koffer, ein Bündel über die Schulter geworfen, und schaute sich um. Er winkte Andrejew, der an dem zerstörten Werkstor stand. Dann ließ er seinen Blick noch einmal über das Haus der Ingenieure und Techniker mit den herausgefallenen Scheiben schweifen, über die traurigen Mauerreste des Turbinenhauses, den leichten Rauch über den immer noch schwelenden Ölisolatoren.
    Er verließ das »Stalgres«, als man ihn dort nicht mehr brauchte – nur einen Tag vor der sowjetischen Offensive, aber dieser eine Tag, den er nicht mehr durchgehalten hatte, machte nach Ansicht vieler Leute seine ganze ehrenvolle, tapfere Arbeit zunichte; sie, die noch vor kurzem bereit gewesen waren, ihn als Helden zu ehren, begannen nun, ihn einen Feigling und Deserteur zu schimpfen.
    Auch er selbst hatte noch lange ein schlechtes Gefühl, wenn er daran dachte, wie er weggegangen war, sich umgesehen und gewinkt hatte und wie der finstere, einsame Alte am Werkstor gestanden und ihm nachgeschaut

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