Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
hatte.
    62
    Vera hatte einen Sohn geboren.
    Sie lag im Schiffsrumpf auf einer Koje aus ungehobelten Brettern. Damit sie nicht fror, hatten die Frauen alle möglichen Lumpen über sie gebreitet; neben ihr lag das in eine Decke eingewickelte Kind, und wenn jemand beim Hereinkommen den Vorhang zur Seite schob, sah sie Menschen – Frauen und Männer – und allen möglichen Plunder, der von den oberen Pritschen herabhing, hörte gedämpftes Stimmengewirr, Kindergeschrei und Gepolter. In ihrem Kopf war Nebel, und auch die stickige Luft war voll Nebel.
    In dem Schiffsraum war es schwül und gleichzeitig eiskalt. Eis bedeckte stellenweise die Bretterwände. Die Leute schliefen in Socken und Jacken; die Frauen behielten ihre warmen Kopftücher den ganzen Tag um und hüllten sich in zerlumpte Decken. Alle bliesen sich die steifgefrorenen Finger.
    Es drang nur wenig Licht durch das winzige Bullauge, das fast auf gleicher Höhe mit dem zugefrorenen Fluss lag, und so wurde es auch tagsüber nie richtig hell in dem Raum. Abends wurden Petroleumlampen ohne Glaszylinder angezündet. Von ihrem Ruß waren die Gesichter der Menschen geschwärzt. Wenn die Luke zur Schiffstreppe aufging, drangen Dampfwolken wie der Qualm von explodierenden Geschossen in den Raum.
    Alte Frauen kämmten ihr graues, feuchtes Haar; alte Männer saßen auf dem Boden mit Krügen heißen Wassers mitten unter bunten Kissen, Bündeln und Holzkoffern, über die vermummte Kinder tollten.
    Vera hatte das Gefühl, das Kind an ihrer Brust habe alles verändert, ihre Gedanken, ihre Beziehung zu anderen Menschen und ihren Körper.
    Sie dachte an ihre Freundin Sina Melnikowa, an die alte Sergejewna, die sie bei der Geburt betreut hatte, an den Frühling, an Mutter, das zerrissene Hemd, die wattierte Decke, an Serjoscha und Tolja, an Kernseife, die deutschen Flieger, den Keller im »Stalgres«, an ihr ungewaschenes Haar – und alles, was ihr in den Sinn kam, war erfüllt von dem Gefühl für das ihr geborene Kind, verband sich mit diesem Gefühl, erlangte und verlor Bedeutung im Zusammenhang damit.
    Sie betrachtete ihre Arme und Beine, ihre Brust und ihre Finger. Das waren nicht mehr die Hände, die Volleyball gespielt, Aufsätze geschrieben und Bücher durchgeblättert hatten. Das waren nicht mehr die Beine, die die Stufen zur Schule hinaufgerannt waren, die im warmen Flusswasser herumgetollt hatten und von Brennnesseln verbrannt worden waren, die Beine, nach denen sich die Passanten auf der Straße umgedreht hatten.
    Wenn sie an das Kind dachte, dann dachte sie auch an Viktorow. Die Flugplätze lagen im Wolgagebiet. Dort war auch Viktorow, ganz nah; die Wolga trennte sie nicht mehr.
    Gleich würden Flieger in den Schiffsraum kommen, und sie würde sie fragen: »Kennen Sie Leutnant Viktorow?«
    Sie würden sagen: »Ja.« – »Dann bestellen Sie ihm, dass sein Sohn hier ist und seine Frau.«
    Die Frauen kamen zu ihr hinter den Vorhang, schüttelten den Kopf, lächelten und seufzten; einige fingen an zu weinen, wenn sie den Kleinen betrachteten. Sie weinten über sich selbst und lächelten für das Neugeborene, und es bedurfte keiner Worte, um sie zu verstehen. Wenn sie Vera etwas fragten, so nur nach der Versorgung des Kindes – ob sie Milch habe, ob sie keine Brustentzündung kommen fühle, ob die feuchte Luft ihr auch nicht schade.
    Am dritten Tag nach der Niederkunft kam ihr Vater. Mit dem Koffer und dem Bündel, dem hochgeschlagenen Mantelkragen, dem Schal, den unrasierten Wangen und der vom Frost geröteten Nase glich er nicht mehr dem Direktor des »Stalgres«.
    Als Stepan Fjodorowitsch zu ihr an die Koje trat, bemerkte Vera, dass sich sein zuckendes Gesicht im ersten Augenblick nicht ihr, sondern dem neben ihr liegenden Wesen zuwandte.
    Er drehte sich von ihr weg, und an seinen zuckenden Schultern erkannte sie, dass er weinte; sie wusste, dass er weinte, weil seine Frau diesen Enkel nicht mehr erlebt hatte, weil sie sich nicht über ihn hatte beugen können, wie er es soeben getan hatte.
    Erst danach, als er anfing, sich seiner Tränen zu schämen, sich über sie ärgerte, weil Dutzende von Menschen Zeugen seiner Schwäche gewesen waren, sagte er mit vom Frost heiserer Stimme: »Da bin ich also Großvater geworden durch dich.« Er beugte sich über Vera, küsste ihre Stirn und strich ihr mit der kalten, schmutzigen Hand über die Schulter.
    Dann sagte er: »Zur Oktoberfeier war Krymow im ›Stalgres‹. Er wusste nicht, dass Mutter nicht mehr lebt, hat

Weitere Kostenlose Bücher