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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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nahm.
    Die Geschichte machte natürlich die Runde, und nach ein paar Tagen hörte Darenski bereits ein paar Dutzend Versionen davon.
    Tag und Nacht dachte er nun nur noch an Essen, Wäschewaschen, Uniformwechsel, Pulver, an das Ausbügeln von Läusen mit einer heißen Flasche, an das Vereisen und Verbrennen von Läusen. Er dachte auch nicht mehr an Frauen, und es fiel ihm ein Spruch ein, den er im Lager von Kriminellen gehört hatte: »Am Leben bleibst du, aber Frauen willst du keine mehr.«
    59
    Den ganzen Tag verbrachte Darenski in den Stellungen der Artilleriedivision. Er hörte keinen Schuss, und kein Flugzeug zeigte sich am Himmel.
    Der Divisionskommandeur, ein junger Kasache, sagte zu ihm, um eine russische Aussprache bemüht: »Ich habe vor, im nächsten Jahr hier Melonen anzubauen. Dann müssen Sie mal kommen, Melonen essen.«
    Dem Divisionskommandeur ging es hier nicht schlecht. Er machte Witze, zeigte dabei seine weißen Zähne und ging leichtfüßig und schnell auf seinen kurzen, krummen Beinen durch den tiefen Sand. Er betrachtete liebevoll die Kamele, die angeschirrt neben den mit Dachpappefetzen gedeckten Hütten standen.
    Doch die gute Laune des jungen Kasachen machte Darenski nur noch trübsinniger; er wollte allein sein und am Abend zu den Stellungen der ersten Batterie gehen, obwohl er sie schon im Lauf des Tages inspiziert hatte.
    Der Mond ging gerade auf, unwahrscheinlich groß, mehr schwarz als rot. Wie vor Anstrengung rot anlaufend, kletterte er am durchsichtig schwarzen Himmel hinauf, und in seinem zornigen Licht sahen die nächtliche Wüste, die Geschütze mit den langen Läufen, die Panzerbüchsen und Granatwerfer irgendwie verwandelt aus, beängstigend und bedrohlich, als lägen sie auf der Lauer. Auf der Straße zog eine Kamelkarawane quietschende Bauernkarren vorbei, die mit Munitionskisten und Heu beladen waren. Alles Unvereinbare vereinte sich in diesen Minuten – die Zugmaschinen und der Lieferwagen mit der Druckerpresse für die Armeezeitung, der kleine Mast der Funkstelle, die langen Hälse der Kamele, ihr schaukelnder, wiegender Gang, der den Eindruck erweckte, als hätten sie keine festen Knochen, sondern seien ganz aus Gummi.
    Die Kamele zogen vorüber, und in der frostklaren Luft blieb ein ländlicher Heugeruch hängen. Der gleiche Mond, mehr schwarz als rot, war auch über dem Wüstenschlachtfeld aufgestiegen, auf dem sich einst Igor und seine Mannen geschlagen hatten. Der gleiche Mond hatte am Himmel gestanden, als die persischen Horden in Griechenland einfielen, die römischen Legionen in die germanischen Wälder eindrangen, als es Nacht wurde über den Bataillonen des Ersten Konsuls bei den Pyramiden.
    Wenn sich menschliches Bewusstsein der Vergangenheit zuwendet, sieht es die Ereignisse immer durch ein engmaschiges Sieb; das Leid, die Hilflosigkeit und Qual der Soldaten wird ausgesiebt. Im Gedächtnis bleibt nur haften, wie die siegreichen und die unterlegenen Truppen gegliedert waren, wie viele Streitwagen, Katapulte, Elefanten oder wie viele Kanonen, Panzer und Bomber an der Schlacht beteiligt waren. Es bleibt nur haften, wie kühn und erfolgreich der Feldherr sein Heer zusammenhielt und in die feindliche Flanke vorstieß und wie die plötzlich hinter dem Hügel auftauchenden Reserveeinheiten den Ausgang des Kampfes entschieden. Das ist alles, und dann der übliche Bericht, dass der siegreiche Feldherr nach der Rückkehr in die Heimat in den Verdacht geriet, den Herrscher stürzen zu wollen, und die Rettung des Vaterlandes mit dem Leben oder, wenn er Glück hatte, mit Verbannung bezahlen musste.
    Dazu kommt dann noch das Schlachtgemälde: Ein riesiger, trüber Mond hängt tief über dem Feld des Ruhmes. Die Helden schlafen mit weit ausgebreiteten Armen, in ihre Rüstungen geschmiedet; zertrümmerte Streitwagen oder zerfetzte Panzer liegen herum – die Sieger mit ihren Maschinenpistolen oder in römischen Helmen mit Kupferadler und wehendem Umhang, oder auch mit Grenadierpelzmützen.
    Darenski saß bedrückt auf einer Munitionskiste in den Feuerstellungen der Artilleriebatterie und lauschte dem Gespräch zweier Rotarmisten, die unter ihren Mänteln neben den Waffen lagen. Der Batteriekommandeur war mit dem Politruk zum Divisionsstab gegangen, der Oberstleutnant – Vertreter des Frontstabs, wie die Artilleristen vom Verbindungsoffizier erfahren hatten – schien fest eingeschlafen zu sein. Die Rotarmisten rauchten genüsslich selbstgedrehte Zigaretten und stießen dicke

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