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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ohne Freiheit! Das war wie eine Krankheit. Die Freiheit einzubüßen ist so, als verliere man die Gesundheit. Das Licht brannte, aus dem Hahn kam Wasser, im Teller war Suppe, aber das Licht, das Wasser und das Brot waren von besonderer Art – alles wurde einem zugeteilt und ausgegeben. Wenn es für die Untersuchung von Nutzen war, wurde den Häftlingen vorübergehend Licht, Nahrung oder Schlaf entzogen. Sie bekamen all dies ja nicht für ihre eigenen Bedürfnisse zugeteilt, sondern weil es die Arbeitsmethode so verlangte.
    Den verknöcherten Greis hatte man ein einziges Mal zum Verhör abgeholt, und bei der Rückkehr teilte er hochmütig mit: »In drei Stunden Schweigen konnte sich der Bürger Untersuchungsrichter davon überzeugen, dass ich tatsächlich Dreling heiße.«
    Bogolejew war immer freundlich, sprach respektvoll mit den Zelleninsassen, erkundigte sich morgens nach ihrem Befinden und ihrem Schlaf.
    Einmal trug er Krymow Gedichte vor, brach dann jedoch den Vortrag ab und sagte: »Entschuldigen Sie, aber das interessiert Sie sicher nicht.«
    Krymow lächelte und antwortete: »Ich muss offen gestehen, dass ich gar nichts verstanden habe. Es gab aber Zeiten, da habe ich Hegel gelesen und verstanden.«
    Bogolejew hatte Angst vor den Verhören, verlor die Fassung, wenn der Wachposten fragte: »Wer fängt hier mit ›B‹ an?« Nach der Rückkehr wirkte er abgemagert, klein und alt.
    Über seine Verhöre erzählte er stockend und kniff dabei verstört die Augen zu. Es wurde nicht klar, was ihm vorgeworfen wurde – entweder ein geplantes Attentat auf Stalin oder die Tatsache, dass ihm die im Geiste des sozialistischen Realismus geschriebenen Werke nicht gefielen.
    Der Riese sagte einmal zu Bogolejew: »Na, helfen Sie dem Burschen doch, die Anklage zu formulieren. Etwa so: Da ich tierischen Hass auf alles Neue empfinde, habe ich wahllos Kunstwerke verunglimpft, die mit einem Stalin-Preis ausgezeichnet wurden. Dann kriegen Sie zehn Jahre. Und ziehen Sie möglichst keine Bekannten mit hinein, damit retten Sie sich nicht, im Gegenteil, man wird Ihnen die Mitgliedschaft in einer Organisation vorwerfen, und Sie kommen in ein Lager mit verschärften Haftbedingungen.«
    »Wovon reden Sie?«, sagte Bogolejew. »Wie kann ich denen helfen, die wissen doch alles.«
    Oft philosophierte er flüsternd über sein Lieblingsthema: Wir alle sind Märchengestalten – furchterregende Divisionskommandeure, Fallschirmspringer, die Jünger von Matisse und Pissarew, Parteimitglieder, Geologen, Sicherheitsbeamte, Urheber der Fünfjahrespläne, Piloten, Erbauer der gigantischen Verhüttungswerke … Und dann haben wir in all unserer Aufgeblasenheit und Selbstsicherheit die Schwelle dieses Wunderhauses übertreten, und ein Zauberstab hat uns in Häschen, Sperlinge, sibirische Kätzchen, Ferkelchen, Eichhörnchen, Zierfische verwandelt. Was brauchen wir nun noch – eine Fliege, ein Ameisenei.
    Er hatte einen originellen, sonderbaren, bestimmt auch tiefen Verstand, aber in Alltagssachen war er kleinlich – er hatte immer Sorge, dass er weniger als die anderen bekommen könnte, schlechter dran sei als die anderen, dass die Zeit seiner Spaziergänge verkürzt würde, dass ihm jemand während des Spaziergangs seinen Zwieback wegessen könnte.
    Das Leben war voller Ereignisse, aber es war leer, ein Scheinleben. Die Männer in der Zelle lebten in einem ausgetrockneten Bachbett. Der Untersuchungsrichter erforschte dieses Bett, die Steinchen, Spalten, die Unebenheiten des Ufers. Doch das Wasser, das einst dieses Bett geschaffen hatte – dieses Wasser war weg.
    Dreling mischte sich sehr selten in die Gespräche ein, und wenn er etwas sagte, dann meist nur zu Bogolejew, wahrscheinlich, weil der parteilos war.
    Aber auch bei diesen Gesprächen wurde Dreling oft zornig.
    »Sie sind ein komischer Typ«, sagte er einmal. »Erstens sind Sie untertänig und nett zu Leuten, die Sie eigentlich verachten, zweitens erkundigen Sie sich jeden Tag nach meinem Befinden, obwohl Ihnen absolut egal ist, ob ich lebe oder verrecke.«
    Bogolejew starrte an die Zellendecke, hob ratlos die Arme und erwiderte: »Hören Sie mal zu:
    ›Schildkröte, woraus ist dein Panzer?‹
    So fragte ich, die Antwort fällt:
    ›Aus angehäufter Angst ist er,
    Denn nichts ist härter auf der Welt!‹«
    »Sind das Ihre Verse?«, fragte Dreling.
    Bogolejew hob wieder die Arme und antwortete nicht.
    »Der Alte fürchtet sich«, sagte Katzenellenbogen, »hat ja auch viel Angst

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