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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und sah, dass der andere klug war. Der Tschekist machte Witze, schwatzte und riss Possen, aber seine Augen waren klug, träge, müde. Solche Augen besitzen Menschen, die alles wissen, die vom Leben müde sind und den Tod nicht fürchten.
    Als er einmal vom Bau der Eisenbahngleise an der Küste des Eismeers sprach, sagte er zu Krymow: »Ein grandioses Projekt – allerdings hat seine Verwirklichung Zehntausende von Menschenleben gekostet.«
    »Schrecklich«, sagte Krymow.
    Katzenellenbogen zuckte mit den Schultern.
    »Sie hätten sehen sollen, wie die Häftlingskolonnen zur Arbeit zogen. In Grabesstille. Über den Köpfen das grünblaue Nordlicht, rundum Eis und Schnee und die tosende schwarze Flut des Meeres. Da sieht man, was Macht ist.«
    Er riet Krymow: »Dem Untersuchungsrichter sollte man helfen. Er ist ein neuer Kader, kann das ganz allein nicht bewältigen … Und wenn man ihm hilft, ihm etwas zuraunt, dann hilft man sich selbst – vermeidet hundertstündige Verhöre. Das Ergebnis bleibt doch dasselbe. Das Sondergericht wird einem schon die gebührende Strafe verpassen.«
    Krymow versuchte, Katzenellenbogen zu widersprechen, der aber wich aus:
    »Die persönliche Unschuld ist ein Überbleibsel aus dem Mittelalter wie die Alchemie. Tolstoi hat verkündet, es gebe auf der Welt keine Schuldigen. Aber wir Tschekisten haben eine höhere These aufgestellt: Es gibt auf der Welt keine Unschuldigen, es gibt keinen, über den man nicht richten kann. Schuldig ist der, für den ein Haftbefehl ausgestellt wird, und den kann man für jeden ausstellen. Jeder Mensch hat das Recht auf einen Haftbefehl. Selbst der, der sein Leben lang Haftbefehle für andere ausgestellt hat. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.«
    Er kannte viele Freunde von Krymow, einige waren ihm als Untersuchungsgefangene aus dem Jahre 1937 bekannt. Er sprach über die Menschen, deren Verfahren er geleitet hatte, ohne Verdruss, ohne Erregung: »Eine interessante Persönlichkeit … ein sonderbarer Kauz … ein sympathischer Kerl«.
    Er erwähnte oft Anatole France, zitierte gern Babels Benja Krik, nannte die Sänger und Tänzerinnen des Bolschoi-Theaters beim Vor- und Vatersnamen. Er hatte eine Raritätenbibliothek zusammengestellt, erzählte von einem kostbaren Radischtschew-Bändchen, das er kurz vor seiner Verhaftung erstanden hatte.
    »Es wäre schön«, sagte er, »wenn meine Sammlung an die Lenin-Bibliothek ginge, sonst verstreuen die Tölpel meine Bücher noch in alle Winde, weil sie keine Ahnung haben, wie wertvoll sie sind.«
    Er war mit einer Balletttänzerin verheiratet. Das Schicksal des Radischtschew-Bandes beunruhigte ihn offenbar stärker als das Schicksal seiner Frau. Krymow sprach ihn einmal darauf an, und Katzenellenbogen antwortete:
    »Meine Angelina ist eine kluge Frau, die kommt schon ohne mich zurecht.«
    Er schien alles zu verstehen, aber nichts zu fühlen. Einfache Begriffe wie Trennung, Leid, Freiheit, Liebe, Treue, Kummer waren ihm ein Rätsel. Seine Stimme klang nur dann erregt, wenn er über die ersten Jahre seiner Arbeit bei der Tscheka berichtete. »Was für eine Zeit, was für Menschen«, wiederholte er. Das, was Krymows Leben ausmachte, war für ihn nur Propaganda.
    Über Stalin sagte er: »Ich verehre ihn mehr als Lenin. Der einzige Mensch, den ich wirklich liebe.«
    Aber warum ging dieser Mann, der an der Vorbereitung des Prozesses gegen die Anführer der Opposition teilgenommen und unter Berija einen riesigen Gulag-Bau im Polargebiet geleitet hatte, so ruhig, so gleichmütig die Hose mit den abgeschnittenen Knöpfen am Bauch festhaltend, im eigenen Haus zu nächtlichen Verhören? Und warum machte ihm der Menschewik Dreling, der ihn durch sein Schweigen strafte, so schmerzlich zu schaffen?
    Manchmal befielen auch Krymow Zweifel. Warum empörte er sich so, fieberte, wenn er Briefe an Stalin verfasste, fror und schwitzte er? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan … Im Jahre 1937 war das Gleiche Zigtausenden von Parteimitgliedern widerfahren, es waren Menschen wie er gewesen, manche sogar besser. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan … Warum klang für ihn jetzt das Wort »Denunziation« so widerlich? Nur weil er selbst denunziert und eingesperrt worden war? Er hatte doch selbst politische Denunziationen von den Politinformatoren in den Kompanien erhalten. Eine ganz gewöhnliche Sache. Gewöhnliche Denunziationen. Rotarmist Rjaboschtan trägt ein Kreuz, nennt die Kommunisten Gottlose. Wie lange lebte

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