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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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angehäuft.«
    Nach dem Frühstück zeigte Dreling Bogolejew ein Buch und fragte ihn: »Gefällt Ihnen der Einband?«
    »Nein, wenn ich aufrichtig sein darf.«
    Dreling nickte. »Ich bin auch kein Verehrer dieses Werkes … Georgi Walentinowitsch sagte: ›Die Figur der Mutter, die Gorki geschaffen hat, ist eine Ikone, die Arbeiterklasse aber braucht keine Ikonen.‹«
    »Generationen lesen ›Die Mutter‹«, sagte Krymow. »Was hat das mit einer Ikone zu tun?«
    Dreling antwortete mit der Stimme einer Kindergärtnerin: »Ikonen brauchen all jene, die die Arbeiterklasse versklaven wollen. Deshalb haben auch Sie auf Ihrem kommunistischen Altar eine Lenin-Ikone und die Ikone des ehrwürdigen Stalin. Nekrassow brauchte keine Ikonen.«
    Nicht nur seine Stirn, Schädel, Arme und Nase schienen aus weißem Knochen geschnitzt zu sein, auch seine Worte klangen so, als seien sie aus Knochen.
    »So ein Lump«, dachte Krymow.
    Er hatte Bogolejew, diesen stillen und liebenswürdigen, immer bedrückten Menschen, noch nie so verärgert gesehen.
    »Sie sind in Ihren Vorstellungen von Dichtung nicht über Nekrassow hinausgekommen. Seitdem gab es noch Blok, Mandelstam und Chlebnikow.«
    »Mandelstam kenne ich nicht«, sagte Dreling, »und Chlebnikow ist schwachsinnig und pervers.«
    »Hören Sie doch auf!«, entgegnete Bogolejew scharf, zum ersten Mal mit lauter Stimme. »Ihre Plechanow’schen Klischees kotzen mich an. Ihr alle hier seid Marxisten verschiedenster Prägung, aber in einem seid ihr euch ähnlich: Was Poesie angeht, seid ihr absolut blind und versteht gar nichts.«
    Eine seltsame Geschichte. Besonders bedrückend war für Krymow der Gedanke, dass die Wachposten, die Tag und Nacht Dienst taten, keinen Unterschied zwischen ihm, dem Bolschewiken und Kriegskommissar, und dem aufsässigen Greis Dreling sahen.
    Und jetzt war er bereit, er, Krymow, der den Symbolismus und die Dekadenz in der Literatur nicht ausstehen konnte, der Nekrassow über alles verehrte – er war bereit, in diesem Streit Bogolejew zu unterstützen.
    Hätte der knöcherne Alte ein schlechtes Wort über Jeschow gesagt, hätte Krymow auch die Erschießung Bucharins, die Aussiedlung von Frauen, die ihre Männer nicht anzeigten, die schrecklichen Urteile und die furchtbaren Verhöre verteidigt. Aber der alte Mann schwieg.
    Kurz danach kam der Wachposten und führte Dreling zum Abort.
    Katzenellenbogen erzählte Krymow: »Ungefähr fünf Tage saßen wir nur zu zweit in der Zelle. Der Alte blieb stumm wie ein Fisch. Dann sagte ich zu ihm: ›Es ist doch zum Lachen, da verbringen zwei Juden, beide nicht mehr jung, gemeinsam die Abende auf dem Vorwerk bei der Lubjanka und schweigen.‹ Meinen Sie, der hätte was gesagt? Er schwieg weiter. Wozu diese Verachtung? Warum will er nicht mit mir reden? Ein Racheakt? Ein Ritualmord? Wozu das alles? Dieser alte Gymnasiast.«
    »Er ist ein Feind!«, sagte Krymow.
    Dreling machte dem Tschekisten offenbar ernsthaft zu schaffen.
    »Der sitzt doch aus gutem Grund, verstehen Sie«, sagte Katzenellenbogen. »Unglaublich! Hinter ihm die Jahre im Lager, vor ihm der Sarg, aber er bleibt eisern. Ich beneide ihn. Wenn die mit dem Anfangsbuchstaben ›D‹ zum Verhör gerufen werden, sitzt er da wie ein Klotz und schweigt. Er hat es geschafft, dass man ihn beim Namen nennt. Und wenn die Vorgesetzten in die Zelle kommen, steht er nie auf – egal, was passiert.«
    Als Dreling vom Abort zurückkam, sagte Krymow zu Katzenellenbogen: »Vor dem Gericht der Geschichte ist dies alles unbedeutend. Selbst hier hassen wir, Sie und ich, die Feinde des Kommunismus.«
    Dreling schaute Krymow mit spöttischer Neugier an.
    »Was denn für ein Gericht?«, sagte er, ohne sich direkt an jemanden zu wenden, »das ist die Lynchjustiz der Geschichte!«
    Katzenellenbogen hatte keinen Grund, den knöchernen Alten um seine Kraft zu beneiden. Dessen Kraft war keine menschliche Kraft mehr. Ein blinder, unmenschlicher Fanatismus erfüllte das erstarrte, gleichgültige Herz des alten Mannes mit seiner chemisch erzeugten Wärme.
    Der Krieg, der in Russland tobte, alle Ereignisse, die mit ihm verbunden waren, ließen Dreling kalt – er erkundigte sich nicht nach der Frontlage, nach Stalingrad. Er wusste nichts von den neuen Städten, von der gewaltigen Industrie. Er lebte kein menschliches Leben mehr, sondern spielte eine endlose, abstrakte, nur ihn allein betreffende Partie Gefängnisschach …
    Krymow interessierte sich sehr für Katzenellenbogen. Er spürte

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