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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Verwandten Briefe aus Lagern, und Namen wie Komi, Salehard, Norilsk, Kotlas, Magadan, Workuta, Kolyma, Kusnezk, Krasnojarsk, Karaganda, Nagajew-Bucht tauchten auf.
    Aber Tausende, die in die Gefängnisse gerieten, verschwanden für immer. Die Staatsanwaltschaft teilte den Verwandten mit, dass diese Person zu zehn Jahren ohne Recht auf Briefwechsel verurteilt sei. Doch es gab in den Lagern keine Menschen mit solchen Urteilen. Zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel war wahrscheinlich die Umschreibung für »erschossen«.
    In den Briefen aus den Lagern schrieben die Häftlinge, dass es ihnen gutgehe, dass sie in warmen Behausungen lebten, und sie baten darum, ihnen, wenn möglich, Knoblauch und Zwiebeln zu schicken. Und die Verwandten fanden heraus, dass Knoblauch und Zwiebeln gegen Skorbut gebraucht wurden. Über die Zeit, die einer im Untersuchungsgefängnis verbracht hatte, stand nie etwas in einem Brief.
    Besonders schlimm war es gewesen, in den Sommernächten des Jahres 1937 durch die Gassen um die Lubjanka zu gehen.
    Die schwülen nächtlichen Straßen waren leer. Die Häuser waren dunkel, die Fenster geöffnet – wie ausgestorben und doch voller Menschen. In der Ruhe dieser Häuser gab es keine Ruhe. Und in den beleuchteten Fenstern, abgeschirmt durch weiße Vorhänge, zeigten sich Schatten. Vor dem Hauseingang schlugen Autotüren zu, Scheinwerfer flammten auf. Es war, als sei die ganze riesige Stadt durch diesen leuchtenden, gläsernen Blick der Lubjanka gelähmt. In der Erinnerung tauchten Bekannte auf. Die Entfernung zu ihnen maß man nicht in räumlichen Größen, man existierte damals in einer anderen Dimension. Und es gab keine Macht, weder im Himmel noch auf Erden, die diesen Abgrund überwinden konnte, denn er kam dem Abgrund des Todes gleich. Doch der Bekannte war nicht unter der Erde, lag nicht unter einem festgenagelten Sargdeckel, sondern lebte gleich nebenan, atmete, dachte, weinte, war nicht tot.
    Die Wagen brachten immer neue Verhaftete; Hunderte, Tausende, Abertausende von Menschen verschwanden hinter den Mauern der Lubjanka, hinter den Toren der anderen Moskauer Gefängnisse Butyrka und Lefortowo.
    Und anstelle der Verhafteten kamen neue Mitarbeiter in die Bezirkskomitees, Volkskommissariate, Wehrkommandos, Staatsanwaltschaften, Trusts, Polikliniken, Werksverwaltungen, Gewerkschaftskomitees der Arbeiter und Angestellten, Sonderabteilungen, Direktionen der Akademietheater, Büros der Flugzeugkonstrukteure, Institute, die gigantische Bauprojekte der chemischen und metallurgischen Industrie entwarfen.
    Es kam vor, dass binnen kurzer Zeit auch die Neuankömmlinge verhaftet wurden, die die inhaftierten Volksfeinde, angebliche Terroristen und Diversanten, hatten ersetzen sollen. Diese Neuankömmlinge entpuppten sich selbst als Staatsfeinde und Lügner und wurden verhaftet. Manchmal stellte sich heraus, dass auch diejenigen aus der dritten Garnitur Staatsfeinde waren, und auch sie wurden verhaftet.
    Ein Leningrader Genosse hatte Krymow einmal flüsternd erzählt, dass in seiner Zelle drei Parteisekretäre eines Leningrader Bezirkskomitees gesessen hätten. Jeder neu ernannte Sekretär hätte seinen Vorgänger als Feind und Terroristen entlarvt. In der Zelle lagen sie ohne Groll nebeneinander.
    Eines Nachts kam auch Mitja Schaposchnikow, der Bruder von Jewgenia Nikolajewna, in dieses Gebäude, ein weißes Bündel unter dem Arm, das seine Frau für ihn gepackt hatte – Handtuch, Seife, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Zahnbürste, Socken, drei Taschentücher. Er trat durch diese Tür ein, im Gedächtnis die fünfstellige Nummer seines Parteibuchs, den Schreibtisch in der Pariser Handelsvertretung, den Schlafwagenwaggon, in dem er auf dem Weg in die Krim mit seiner Frau Eheprobleme besprach, Mineralwasser trank und gähnend in den »Metamorphosen« des Apuleius blätterte.
    Natürlich war Mitja unschuldig. Und trotzdem: Mitja war eingesperrt worden und Krymow ungeschoren geblieben.
    Durch diesen grell erleuchteten Gang, der aus der Freiheit in die Unfreiheit führt, ging einst Abartschuk, der erste Mann von Ljudmila Schaposchnikowa. Er ging zum Verhör, voller Ungeduld, das absurde Missverständnis aufzuklären … Und dann verstrichen fünf, sieben, acht Monate, und Abartschuk gab zu Protokoll: »Den Gedanken, den Genossen Stalin zu ermorden, legte mir erstmals der Vertreter der deutschen Abwehr nahe, mit dem mich seinerzeit ein Führer des Untergrundes bekannt gemacht hat … Das Gespräch fand am

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