Leben und Schicksal
Jausa-Boulevard nach der Mai-Demonstration statt, ich erbat mir fünf Tage Bedenkzeit, und wir verabredeten ein neues Treffen.«
Eine erstaunliche Arbeit wurde hinter diesen Fenstern geleistet, wahrhaft erstaunlich, hatte doch Abartschuk einst den Blick nicht gesenkt, als der weißeKoltschak-Offizier 1 auf ihn gezielt hatte.
Natürlich, er war gezwungen worden, die Selbstbezichtigungen zu unterschreiben. Natürlich, Abartschuk war ein echter Kommunist, einer aus der harten Lenin’schen Schule, er war unschuldig gewesen. Und doch war er verhaftet worden, hatte Aussagen gemacht. Nicht so Krymow. Der war nicht eingesperrt, nicht verhaftet, nicht zu Geständnissen gezwungen worden.
Wie solche Fälle aus dem Boden gestampft wurden, hatte Krymow gehört. Manches hatte er von Menschen erfahren, die ihn flüsternd beschworen: »Aber denk dran, wenn du auch nur einem Menschen – deiner Frau, deiner Mutter – etwas davon sagst, bin ich ein toter Mann.«
Manches erfuhr er von jenen, die vom Alkohol enthemmt oder auch aus Verärgerung über die selbstgefällige Borniertheit des Gesprächspartners plötzlich ein paar unüberlegte Worte fallenließen, ehe sie abrupt abbrachen, um anderntags gleichsam nebenbei gähnend zu erwähnen: »Ja, übrigens, ich hab gestern scheint’s allerhand Blödsinn von mir gegeben, erinnerst du dich? Nein? Na, umso besser.«
Manches erzählten ihm die Ehefrauen von Freunden, die ihre Männer in den Lagern besucht hatten.
Doch das waren alles Gerüchte, Geschwätz. Krymow war ja nichts dergleichen zugestoßen.
So. Und nun hatte man ihn eingesperrt. Das Unglaubliche, Absurde, Haarsträubende war geschehen. Als die Menschewiken, Sozialrevolutionäre, Weißgardisten, Popen und Kulaken-Agitatoren eingelocht wurden, hatte er niemals auch nur eine Minute lang darüber nachgedacht, was sie wohl empfanden, diese Menschen, die ihrer Freiheit beraubt worden waren und auf ihr Urteil warteten. Er hatte nicht an ihre Frauen, Mütter und Kinder gedacht.
Als dann die Geschosse immer näher einschlugen und die eigenen Leute trafen, hatte ihn das natürlich nicht kaltgelassen: Da wurden ja keine Feinde eingesperrt, sondern Sowjetmenschen, Parteimitglieder.
Und als einige Menschen abgeholt wurden, die ihm besonders nahestanden, Männer seiner Generation, die er für Bolschewiken und treue Lenin-Anhänger gehalten hatte, da war er natürlich erschüttert gewesen, hatte nachts nicht schlafen können und gegrübelt, ob Stalin das Recht habe, Menschen verhaften, martern und erschießen zu lassen. Er dachte an die Leiden, die sie durchlitten, an die Leiden ihrer Frauen und Mütter. Es waren ja keine Kulaken oder Weißgardisten, es waren Menschen – Bolschewiken, der Sache Lenins treu. Aber dennoch beruhigte er sich: Immerhin hatte man ihn, Krymow, nicht verhaftet, nicht ins Exil geschickt, er hatte keine Geständnisse unterschrieben und keine falschen Anklagen akzeptiert.
Und nun hatte man ihn, Krymow, den lenintreuen Bolschewiken, eingesperrt. Jetzt gab es keine Ausflüchte, Deutungen und Erklärungen. Es war geschehen.
Manches wusste er bereits. Die Zähne, Ohren, die Nase und die Leistengegend eines Menschen wurden zum Durchsuchungsobjekt. Dann ging der Mensch durch einen Gang, jämmerlich und komisch in seinem Bemühen, die Hose und Unterhose hochzuhalten, von denen die Knöpfe abgeschnitten waren. Die Kurzsichtigen mussten die Brille abliefern, sie zwinkerten unruhig und rieben sich die Augen. Der Mensch betrat eine Zelle und wurde zum Versuchskaninchen, entwickelte neue Reflexe, sprach flüsternd, und alles, was er tat – aufstehen, niederlegen, Notdurft verrichten, schlafen und träumen –, tat er unter dem Blick eines allgegenwärtigen beobachtenden Auges. Es war eine einzige grausame, unmenschliche Tortur. Zum ersten Mal begriff er ganz klar, wie entsetzlich die Dinge waren, die sich in der Lubjanka abspielten. Denn gequält wurde ein Bolschewik, ein Leninist, der Genosse Krymow.
6
Die Tage verstrichen, doch Krymow wurde nicht zum Verhör geholt.
Er wusste schon, wann und was man zu essen bekam, kannte die Zeit der Spaziergänge und des Bades, erkannte den Geruch des Gefängnistabaks, die Zeiten der Appelle waren ihm ebenso vertraut wie der Bücherbestand in der Bibliothek, er erkannte die Gesichter der Wachposten und wartete nervös auf die Rückkehr seiner Zellennachbarn vom Verhör. Öfter als die anderen wurde Katzenellenbogen hinausgerufen. Bogolejew wurde immer tagsüber geholt.
Ein Leben
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