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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Nachbar.
    »Und warum mit ›K‹?«
    »Das ist hier die Vorschrift – der Anfangsbuchstabe. Vorgestern rief ihn der Wachposten auf: ›Wer ist hier der Katzenellenbogen, der mit ›K‹ anfängt?‹ Sehr komisch. Ein drolliger Kerl!«
    »Ja, wir haben uns halb totgelacht«, sagte der Alte.
    »Und warum bist du hier, alter Buchhalter«, dachte Krymow. »Mein Name fängt auch mit ›K‹ an.«
    Die Gefangenen legten sich schlafen, aber das grelle Licht brannte weiter, und Krymow spürte auf der Haut, dass jemand durch das Guckloch beobachtete, wie er die Fußlappen aufwickelte, die Unterhose hochzog und sich auf der Brust kratzte. Das war ein besonderes Licht, es brannte nicht für die Menschen in der Zelle, sondern damit man sie besser beobachten konnte. Wäre es bequemer gewesen, sie im Dunkeln zu beobachten, hätte man sie im Dunkeln gehalten.
    Der alte Buchhalter lag mit dem Gesicht zur Wand. Krymow und sein kurzsichtiger Nachbar flüsterten, ohne einander anzuschauen, verdeckten den Mund mit der Hand, damit der Wachposten die Lippenbewegungen nicht zu sehen bekam. Von Zeit zu Zeit schauten sie zu dem leeren Bett. Was für Späße der Conférencier jetzt wohl beim Verhör machte?
    Der Nachbar flüsterte: »In der Zelle sind wir alle zu Hasen geworden, zu Häschen. Das ist wie im Märchen: Ein Zauberer berührt die Menschen, und die verwandeln sich in Mümmelmänner.«
    Er begann, von den Nachbarn zu erzählen.
    Der Alte war entweder Sozialrevolutionär oder Sozialdemokrat oder bei den Menschewiki gewesen, sein Name war Dreling, Nikolai Grigorjewitsch kannte ihn von irgendwoher. Dreling hatte in Gefängnissen, politischen Isolationsstätten und Lagern mehr als zwanzig Jahre abgesessen – fast so viel wie die Insassen der Schlüsselburger Festung, Morosow, Noworusski, Frolenko und Figner. Jetzt hatte man ihn im Zusammenhang mit einem neuen Verfahren nach Moskau gebracht: Er war auf die Idee gekommen, den enteigneten Kulaken im Lager Vorlesungen zur Agrarfrage zu halten.
    Der Conférencier hatte eine genauso lange Lubjanka-Erfahrung wie Dreling. Vor über zwanzig Jahren hatte er begonnen, bei Dserschinski in der Tscheka zu arbeiten, dann war er bei Jagoda in der OGPU, bei Jeschow im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, bei Berija im Volkskommissariat für Staatssicherheit. Er hatte in der Zentrale gearbeitet und riesige Lagerbaustellen geleitet.
    Krymow hatte sich auch bei seinem Gesprächspartner Bogolejew geirrt. Der Staatsangestellte entpuppte sich als Kunstwissenschaftler, Sachverständiger eines Museumsfonds, Autor von Gedichten, die nie gedruckt worden waren – Bogolejew schrieb nicht im Einklang mit dem Zeitgeist.
    Bogolejew flüsterte erneut: »Und jetzt bin ich ein Häschen, verstehen Sie, ein Häschen. Alles, aber auch alles ist verschwunden, und aus mir ist ein Häschen geworden.«
    Wie entsetzlich: Es gab doch nichts anderes auf der Welt als die Eilüberquerung des Bug und des Dnjepr, als die Pirjatinsker Einkesselung und die Sümpfe von Owrutsch, als den Mamajew-Hügel, die Kuporosnaja-Schlucht und das Haus »sechs Strich eins«, als die politischen Denunziationen, den Schwund von Munition, als verwundete Politruks, nächtliche Angriffe, die politische Arbeit im Kampf und auf dem Marsch, als die Justierung von Einschießpunkten, als Panzervorstöße, Minenwerfer, als den Generalstab, die schweren Maschinengewehre …
    Und auf derselben Welt und zur selben Zeit gab es nichts anderes als nächtliche Verhöre, Wecken, Kontrollen, Abortgänge unter Bewachung, abgezählte Zigaretten, Durchsuchungen, Gegenüberstellungen, Untersuchungsrichter, Beschlüsse der Sondergerichte …
    Es gab das eine wie das andere.
    Warum aber erschien es ihm ganz natürlich und unvermeidlich, dass seine Nachbarn, der Freiheit beraubt, in einer Zelle der politischen Abteilung saßen? Und warum wollte es ihm einfach nicht in den Kopf, dass er, Krymow, in dieser Zelle und auf dieser Pritsche gelandet war?
    Krymow verspürte den Drang, über sich zu reden. Er hielt es nicht aus und sagte: »Meine Frau hat mich verlassen, keiner wird mir was mitbringen.«
    Das Bett des Riesen blieb bis zum nächsten Morgen leer.
    5
    Vor dem Krieg war Krymow eines Nachts an der Lubjanka vorbeigegangen und hatte gerätselt, was sich hinter den Fenstern des schlaflosen Hauses wohl abspielen mochte. Die Inhaftierten saßen im sogenannten Innengefängnis acht Monate, ein Jahr, anderthalb Jahre – die Untersuchung lief. Dann bekamen ihre

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